Sind Frauen weniger aggressiv als Männer?

Sind Frauen weniger aggressiv als Männer?
Saturday 08 October 2005

Sind Frauen von Natur aus friedfertiger als Männer oder ist “ihre Friedfertigkeit” eine Konsequenz der männlichen Unterdrückung?

Wo liegt der Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Aggression?

Stößt eine aggressive Frau auf mehr Unverständnis als ein Mann?

Ist Gewalt und Grausamkeit geschlechtlich?

Gibt es den weiblichen Sadismus? Wie wird er ausgelebt?

Haben Frau ein höheres Gewaltpotenzial als Männer, wenn man sie nur
lässt?

Als Sie die Bilder von Abu Ghraib und Lynndie England gesehen haben,
was haben Sie über diese Frau gedacht? (Täter oder Opfer)

Gibt es Parallelen zwischen England und den Selbstmordattentäterinnen
in Palästina und Tschetschenien? Wo liegen die Unterschiede?

Sehen sie diese Form der weiblichen Gewalt als Indiz für eine Verrohung
der Gesellschaft?

Ist die weibliche Gewaltausübung – wie sie von England und den
Selbstmordattentäterinnen durchgeführt wurde – eine perverse Form der
Gleichberechtigung?

AM: Ich fasse meine Antworten in einem kurzen Text zusammen, der die meisten der von Ihnen gestellten Fragen im Kern betrifft:

Zwischen der Grausamkeit von Frauen und derjenigen von Männern sehe ich eigentlich keinen Unterschied, weil beide Geschlechter den Sadismus einst in der Kindheit von ihren Eltern und Erziehern gelernt haben, zur Zeit als sich ihr Gehirn ausbildete. Sie wurden als Kinder grausam, häufig pervers, behandelt und durften sich nicht wehren. So leben sie später die unterdrückte Wut ebenfalls an wehrlosen Menschen aus und zwar oft in der gleichen Art, wie es ihre Eltern mit ihnen in der Kindheit praktiziert haben. Dieser Sadismus richtet sich bei Frauen am leichtesten gegen die eigenen Kinder und äußert sich bei Männern zusätzlich gegen erwachsene Untergebene, am Arbeitsplatz, beim Militär, aber auch in Gewaltexzessen wie bei Genoziden und Terroranschlägen. Die Ursachen liegen immer im unterdrückten und total verleugneten Leiden ihrer Kindheit (die meisten behaupten, sie hätten wunderbare Eltern gehabt) und die angeblich politischen Gründe lassen sich wie Sand am Meer finden. Menschen, die in der Kindheit nicht gedemütigt, gequält und nie geschlagen wurden, können gar nicht sadistisch sein. (vgl. dazu meinen Artikel “Der blanke Sadismus”)

In den Konzentrationslagern fehlte es zwar nicht an perversen Frauen, doch die meisten Frauen haben es nicht nötig, ihre einst in der Kindheit gelernte Grausamkeit im KZ oder beim Militär auszuleben. Sie können im Verborgenen alle möglichen Formen der Perversion mit ihren Kindern betreiben und sie nach Belieben straflos quälen, solange sie dieses Verhalten als Erziehung bezeichnen. In der ganzen Gesellschaft werden die Mütter ohnehin idealisiert, weil wir alle als Kleinkinder die Grausamkeit der eigenen Mutter niemals wahrnehmen konnten. Daher genießen Frauen gewöhnlich volle Immunität.

Bei den Selbstmordattentätern sehe ich keine geschlechts spzifischen Unterschiede. Ich verstehe den Terror als Versuch, die einst erfahrenen und unbewusst gebliebenen Demütigungen durch eine “großartige Tat” (wie zum Beispiel die Opferung des eigenen Lebens für die Erlösung einer Gruppe) zu kompensieren.

Meines Erachtens sind Frauen keineswegs friedfertiger als Männer. Natürlich werden sie fast überall da unterdrückt, wo sich die erwachsenen Männer an ihren Ehefrauen für die von ihren Müttern erhaltenen Schläge rächen. Für diese Unterdrückung und die Schläge der Ehemänner rächen sich die Frauen an ihren Kleinkindern und züchten auf diese Weise neue Generationen von unbewussten Rächern, die bewusst ihre Eltern lieben und in hohen Ehren halten.

Obwohl es nicht schwer ist, diese Dynamik zu verstehen, gibt es noch nicht viele Menschen, die den Mut haben, ihre Verleugnung aufzugeben und der Wahrheit nicht länger auszuweichen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet