Verschollene Kindheit

Verschollene Kindheit
Wednesday 26 April 2006

Liebe Frau Miller,
schon lange hatte ich die Absicht, Ihnen zu schreiben, habe mich aber lange nicht getraut.
Ich habe Ihre Bücher “Evas Ewachen, das Drama des begabten Kindes und die Revolte des Körpers gelesen und es meiner Schwester wärmstens empfohlen. Obwohl ich vier Jahre lang eine Therapie gemacht habe, welches leider Anfang diesen Jahres zu Ende ist, ist mir erst nach Ihrer Lektüre bewusst geworden, dass ich erst am Anfang bin.
Wir sind drei Schwestern – ich bin die Jüngste. Wir sind türkischer Herkunft, unsere Eltern sind in den 60er Jahren nach Deutschland gekommen, d.h. erst unsere Mutter, dann unser Vater. Ich habe absolut keine Beziehung zu meinen Eltern. Weder Liebe noch Hass. Sie sind mir total gleichgültig. Mein Vater ist vor 5 Jahren verstorben. Ich bin zu seinem Tod in die Türkei geflogen (mittlerweile waren sie schon in den 90er Jahren zurückgekehrt in ihre Heimat und haben uns hier gelassen). Ich habe ihn noch ein letztes Mal sehen wollen, um zu sehen, ob ich selbst bei seinem Tod etwas empfinde. Aber es hat sich überhaupt nichts geregt bei mir. Es war mir egal. Die Nähe und Berührungen meiner Mutter kann ich nicht ertragen. Sie tun mir sogar weh. Es ist ein Horror für mich, wenn ich sie mal besuche und sie mich umarmt. Ich habe Stunden vorher schon richtige Magenschmerzen. In ihrer Gegenwart kann und will ich auch keine Gefühle zeigen. Selbst wenn sie über ihre eigene sehr tragische und traumatische Jugend und Verheiratung erzählt (sie wurde von ihrem eigenen Vater mit 16 Jahren an einen siemlich perversen und um viele Jahre älteren Mann verkauft, Nach einigen Wochen konnte sie sich befreien und musste wieder zu ihren Eltern, die sie nach einiger Zeit wieder – diesmal an meinen Vater – einfach weiter verkauft haben) , weigere ich mich Gefühle zu zeigen und es ekelt mich auch an. Ich verstehe es nicht. Warum?
Obwohl es eine ziemlich brutale und traumatische Geschichte ist, kann ich keine Gefühle dabei zeigen. Nach den Erzählungen meiner Mutter war ich kein gewolltes Kind, sie hat in der Schwangerschaft sogar versucht, mich durch Tabletten “wegzubekommen”. Ganz schlimm war es für sie, dass ich auch schon wieder ein Mädchen war – nach zwei Töchtern. Ich vermute, sie hat mich schon von vornherein abgelehnt. Obwohl ich es aus Ihrer Sicht verstehen kann, habe ich sie nie lieben können. Ich habe absolut keine Erinnerung an meine Kindheit. Meine Tante erzählt, dass ich mit etwa mit ein einhalb Jahren mich geweigert habe zu laufen und zu reden. Erst mit 3 Jahren habe ich dann wieder laufen gelernt. Die 9 Jahre, die ich in der Türkei verbracht habe, empfinde ich als ein großes schwarzes Loch. Nicht einmal an eine einzige Szene kann ich mich erinnern. Nur aus Erzählungen weiß ich, dass meine Mutter nach Deutschland kam, als ich 2 Jahre alt war, kurz darauf folgte ihr mein Vater. Wir 3 Mädchen, damals 2,4 und 6 Jahre alt waren uns völlig selbst überlassen, ohne Babysitter, ohne Großeltern, die auf uns hätten aufpassen müssen. Nach 6 Monaten soll mein Vater wieder zurückgekehrt sein. Er war dann zwischenzeitlich immer wieder mal bei meiner Mutter. Ich bin sicher, dass in dieser Zeit viel passiert sein muss, dass uns alle drei aus der Bahn geworfen hat. Ich weiß nur nicht was. Meinen Schwestern geht es genauso. Wir haben alle drei sehr früh geheiratet, alle drei in der Hoffnung, eine liebevolle Familie zu gründen und Nestwärme zu bekommen, alle drei haben wir früh Kinder bekommen und fast im gleichen Alter wurden wir alle wieder geschieden. Wir sind alle an die Männer gekommen, die unserem Vater ähnlich sind (charakterlich). Ich kann heute nicht verstehen, wie ich meinen Ex-Mann nur heiraten und mit ihm Kinder bekommen konnte. Ich begreife es einfach nicht. Die gleichen Gefühle, die ich für meine Eltern empfinde, nämlich gar keine – empfinde ich auch für meinen Ex-Mann.
Mir ist jetzt erst bewusst, dass ich in meinem Leben noch nie Wärme und Liebe empfunden und bekommen habe, was mich sehr traurig macht. Es ist sogar so schlimm, dass ich – selbst wenn ich es jetzt aufschreibe – schon fast ein Nervenbruch habe. Ich bin nicht einmal in der Lage, darüber zu sprechen. Selbst in meiner 4jahre dauernden Therapie konnte ich es nicht. Nach aussen bin ich ein völlig fremder Mensch, immer fröhlich, liebenswert, zuvorkommend und immer darauf bedacht, ja keinem weh zu tun. Aber Abends, wenn ich alleine an meinem Tisch sitze und die Kinder schon schlafen fühle ich mich total einsam und auf der Welt überflüssig. Ich fühle mich wirklich als überflüssig und denke, ich muss es jedem Recht machen, damit sie mich akzeptieren und annehmen. Deshalb kann ich auch nie nein sagen. Manchmal bin ich aber auch ziemlich zynisch und verletzend, was mir dann wieder leid tut. Ich habe mich nun völlig zurückgezogen, damit ich niemandem schade. Während meiner Therapie ging es mir einigermassen gut und ich konnte zumindest die Welt wahrnehmen. Aber nachdem nun die Zeit vorüber ist, sind meine starken Magenschmerzen, Migräneattacken und die völlige Lähmung (keine Lust zu gar nichts) zurück gekommen. Am liebsten würde ich einfach nur nichts tun und schlafen. Das ist natürlich ziemlich schwierig, da ich drei Kinder habe, die älteste ist geistig behindert (Autismus). Also muss ich funktionieren.
Ich komme aus diesem Teufelskreis nicht raus. Ihre Bücher haben mir ein wenig geholfen zu verstehen, warum ich mich so fühle. Ich habe beschlossen um eine weitere Therapiezeit zu kämpfen. Diesmal möchte ich mich aber öffnen, um herauszubekommen, was in den 9 Jahren Dunkelheit in meiner Seele passiert ist. Ich möchte es so gerne wissen, wobei ich mir ziemlich sicher bin (keine Ahnung warum), dass es mich sehr belasten wird.
Was ich von Ihnen möchte und warum ich Ihnen schreibe, weiß ich nicht. Es war einfach der Wunsch.
Meinen eigenen Kindern versuche ich eine gute Mutter zu sein. Ich versetze mich immer in sie hinein und spüre dann aber auch ihre Schmerzen. Manchmal schaue ich mir auch meine jüngste Tochter an und überlege mir, wie ich wohl war damals. Ich würde meine Kinder niemals verlassen oder sie alleine lassen und niemals würde ich es verkraften, wenn man ihnen Leid zufügt. Zu gerne würde ich ihnen so viel Liebe geben, ich weiß nur nicht, wie es geht, was Liebe eigentlich ist. So versuche ich das Beste zu geben und hoffe, dass sie wenigsten Liebe bekommen und geben können.
Liebe Frau Miller, ich danke Ihnen für Ihre Geduld und Zeit.
Herzlichst
Ihre
S

AM: Sie schreiben: “Diesmal möchte ich mich aber öffnen, um herauszubekommen, was in den 9 Jahren Dunkelheit in meiner Seele passiert ist. Ich möchte es so gerne wissen, wobei ich mir ziemlich sicher bin (keine Ahnung warum), dass es mich sehr belasten wird.” Weshalb haben Sie denn keine Ahnung, wenn Sie uns doch sehr deutlich mitgeteilt haben, was geschehen ist, das schreckliche Elend Ihrer Kindheit, die Ablehnungt, das totale Verlassensein? Aus Ihren Mitteilungen geht hervor, dass Sie vieles wissen, aber es nicht wahrhaben, nicht für WAHR halten wollen, weil Sie als Kind daran gestorben wären. So fürchten Sie den Schmerz immer noch, als wären Sie noch ein Kind. Das sind Sie aber nicht mehr. Das wissen Sie und wollen diesen Schmerz zulassen, Ihren Kindern zuliebe, aber auch – zum Glück – dem kleinen Mädchen zuliebe, das Sie einst waren und dem niemand sich verstehend zuwandte und das daher lernen musste, nicht zu fühlen.J etzt wollen Sie sich Ihren Gefühlen öffnen, und ich zweifle nicht daran, dass Sie es schaffen werden. Lesen Sie die FAQ Liste, bevor Sie sich für eine Therapeutin entscheiden, auch meinen letzten Artikel auf dieser Webseite. Ich hoffe, dass es Ihnen gelingen wird, das zu tun, was Ihre Mutter hätte tun müssen, aber nie getan hat: Das reiche, kluge, aufgeweckte, lebenshungrige Mädchen zu entdecken, das Sie waren, und sich dessen zu erfreuen. Sehr lange, viel zu lange, haben Sie sich so behandelt, wie Ihre Mutter Sie behandelt hat. Kein Wunder, dass Sie ihre Nähe nicht ertragen. Ihre Wut, die hoffentlich einmal kommen wird, ist dann absolut berechtigt.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet