Mutters Erpressung

Mutters Erpressung
Sunday 15 March 2009

Liebe Alice Miller!
Im letzten Absatz der Schilderung der Kindheit Adolf Hitlers in “Am Anfang
war Erziehung” erwähnen sie kurz einen Umstand, auf den sie später nie
wieder zurückkamen. Seine behinderte Tante, in der sie – meiner Meinung nach
zurecht – den Grund für das Euthanasieprogramm der Nazis vermuten. Ich finde es
schade, daß dieses Thema (soweit ich weiß) nie wieder aufgegriffen wurde…
Ich möchte von meiner Situation berichten. Meine Mutter heiratete mit Anfang
20 aus verschiedenen Gründen (nicht aus Liebe) einen Mann und bekam einen Sohn.
Die Ehe ging natürlich schief, meine Mutter ließ sich scheiden und zog mit
ihrem Sohn (damals ein Kleinkind) aus. Dann lernte sie bald einen anderen Mann
kennen und heiratete ihn. Dieser Mann nahm sich seines Stiefsohnes in
liebevollster Weise an. Auch als sich bald herausstellte, daß der Bub gesitig
etwas verlangsamt war, keine normale Schule absolvieren und keine
Berufsausbildung machen konnte und im Alltag sehr langsam, unbeholfen und oft
schwierig war (Jähzornausbrüche).
Als der Sohn 13 Jahre alt war wurde ich geboren.
Als ich 5 Jahre alt war starb mein Vater.
Meine Mutter blieb mit dem damals 17jährigen behinderten Sohn und mir – einer
5jährigen – alleine zurück.
Von Anfang an mußte ich – die “normale” – auf meinen älteren
Halbbruder Rücksicht nehmen. Obwohl z.B. seine “Faulheit” – er
verweigerte jede Mithilfe im Haushalt und alles blieb an mir hängen – oder
seine Jähzornausbrüche extrem belastend waren. Forderte ich in kindlicher
Weise “Gerechtigkeit” wurde ich mit Vorwürfen bedacht, so in der Art
“er ist eben so, das mußt du akzeptieren”.
Daneben ließ mich meine Mutter immer wieder an ihren Sorgen teilhaben –
“Was wird aus ihm, wenn ich nicht mehr bin?”
Von frühester Kindheit an verspürte ich den Druck, irgendwann einmal die
Verantwortung für ihn übernehmen zu müssen. Was mich fertig machte – DENN ICH
HASSTE IHN!
Ich zog sobald ich nur konnte von zu hasue aus, damit mir wenigstens der Alltag
mit ihm erspart blieb. Aber “entlassen” war ich damit natürlich
nicht.
Lehnte ich diese “aufgezwungene” Verantwortung rundheraus ab, gab
und gibt es 2 mögliche Reaktionen:
Meine Mutter erklärt ihn für “normal” und sagt: “Du brauchst
sich nicht um ihn zu kümmern, er schafft das schon allein. Warum traust Du ihm
nichts zu?”
Oder sie wird krank. So nach dem Motto: schau Dir an, was Du angerichtet hast,
ich werde wegen dir krank.
Jede andere Alternative – ihn in Betreung zu geben – wird abgelehnt. Erst von
ihr, mit dem oben genannten Argument (er wäre doch “normal” und ich
würde ihn falsch einschätzen), dann natürlich mit heftigem Gebrüll von ihm.
Und jetzt komme ich zu meinem Dilemma: Wenn ich den einfachen, radikalen und
sicher für mich selbst besten Weg wähle – den totalen Kontaktabbruch –
entziehe ich mich damit nicht einer “menschlichen” Verantwortung?
Werde ich dann nicht wie Hitler, der Behinderte als “unwert” ansah und
die Welt von ihnen befreien wollte – denn ich will nichts anderes als von diesem
speziellen Behinderten, der mein Bruder ist, befreit werden!
Aber ich will so nicht sein – darum nehme ich die Verantwortung immer wieder
auf mich, lasse mich erpressen und manipulieren.
Aber ich halte es oft nicht aus! Neben der praktischen Belastung im Alltag
kommen da nämlich noch andere Gefühle hoch: Er wurde immer bevorzugt,
verwöhnt. Alles wurde ihm erlaubt, er wurde niemals zurechtgewiesen. Während
ich sehr streng gehalten wurde. Das ist alter Kinderneid, ich weiß.
Als ich in der Schilderung von Adolf Hitlers Kindheit den kurzen Absatz über
die Tante las, erschrak ich zutiefst über mich selbst. Denn für mich ist die
These, daß das Euthanasieprogramm der Nazis auf dieser Erfahrung beruht,
völlig schlüssig. Aber so etwas darf ich nicht einmal denken!

AM: Doch, Sie dürfen alles denken und alles fühlen. Ihre Gefühle wie die Wut über die Überforderung und der Neid über Mutters Bevorzugung des Bruders und viele mehr sind absolut berechtigt und erlaubt. Es ist gut, dass Sie diese Gefühle leben und verstehen können, gerade dann sind Sie nicht in Gefahr, diese an Sündenböcken abzuladen. Aber Hitler durfte seine Tante und seinen grausamen Vater niemals hassen (Gott behüte!), und daher ist dieser Hass im Unbewussten so lange gewachsen. Natürlich gibt es Menschen, die Ähnliches erleiden und sich nicht solche makabren Lösungen ausdenken, wie die von Hitler. Das hängt von der Konstellation der einzielnen Familiensituation ab. Sie sind Ihrer Mutter nichts schuldig, sie muss andere Menschen mit der Sorge um Ihren Bruder beauftragen, Menschen, die nicht als Kinder unter seiner Gegenwart so gelitten haben wie Sie. Lassen Sie sich keine Schuldgefühle von Ihrer Mutter aufdrängen. Sie haben das Recht auf Ihr eigenes, unbeschwertes Leben, und Ihre Mutter muss ihre Probleme selber lösen. Sie darf sie Ihnen nicht aufdrängen und Sie mit Hilfe von Drohungen, sie werde krank, erpressen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet