Vortrag Kindesmisshandlung

Vortrag Kindesmisshandlung
Sunday 13 April 2008

Liebe Frau Miller,

gestern abend war ich auf der 83. Sitzung der Medizinischen Gesellschaft am Untermain bei dem Vortrag Kindesmisshandlung von Priv.-Doz. Dr. Klepper am Klinikum Aschaffenburg, moderiert von Prof. Dr. Schneider.

Es war schrecklich und ignorant. Der Vortrag selbst war fachlich fundiert, mit gutem Bildmaterial veranschaulicht und ansprechend vorgetragen sowie sogar mit einer Statistik versehen, die besagt, dass misshandelnde Eltern früher misshandelte Kinder waren. Schlüsse wurden allerdings nicht daraus gezogen. Die anschließende Diskussion war dann noch sehr kriminalistisch; es ging darum, wie wir Ärzte (einige Allgemeinmediziner, viele Pädiater) Kindesmisshandlungen erkennen und die Eltern überführen können. Obwohl eine Statistik gezeigt wurde, nach der lediglich 5 % der angezeigten Fälle überhaupt zu einer Verurteilung führen (und dann meist eine Geldstrafe), lag das Augenmerk ausschließlich auf den äußeren, nachweisbaren, körperlichen Spuren der Misshandlung. Auch wurden pädagogische Elternschulungen erwähnt, bei denen die betroffenen Eltern lernen sollen, ihre Kinder anders (!) zu bestrafen.

Mein Einwand, dass solche Schulungen wenig brächten und lediglich eine Therapie der Eltern, bei der ihre eigenen Schmerzen der früheren Misshandlungen erlebt werden, die Kinder solcher Eltern vor weiteren Kindesmisshandlungen schützen könne, dieser Einwand wurde von dem anwesenden Neurologen zunächst wohlwollend bejaht, dann aber mit der Einschränkung versehen, wie schwierig es sei, solche alten Kindesmisshandlungen zu bearbeiten. Als er dann drei Sätze weiter mit anderen älteren Kollegen von seinen und deren früheren Prügelstrafen prahlte und wieviel sie doch alle davon profitiert hätten, wusste ich, dass er bei keinem einzigen seiner Patienten deren Leiden als kleines Kind auch nur anreisst.

Immerhin wehrten sich dann doch einige Kollegen gegen die Prügelstrafe als Erziehungsmittel, nicht aber gegen Klapse. Als ich behauptete, dass auch Klapse schädlich, eindeutig eine Kindesmisshandlung (nur keine akut lebensbedrohliche) und in keinem Fall hinnehmbar sind, wurden einige Kollegen regelrecht aggressiv und meinten, sie wollten eine seriöse Veranstaltung und auch ihre Kinder bräuchten ja wohl immer wieder einmal einen Schlag auf die Finger oder den Po.

Wenn ich bedenke, dass die gestern anwesenden Kollegen und Kolleginnen noch die am Thema interessierten sind, werde ich doch traurig und ärgerlich.

In meiner Sprechstunde behandele ich so viele Patienten, deren Leiden ihre Ursprünge ausschließlich in der entwürdigenden, bevormundeten oder misshandlelten Erziehung ihrer Kindheit haben. Leider kann ich den wenigsten helfen; auch sie sind so ignorant wie meine Kollegen gestern. Im Moment beschränke ich mich darauf, denen zu helfen, die ihre Wahrheit wirklich sehen wollen, die bereit sind, mit mir in ihre frühen Jahre zu reisen und das gequälte Kind suchen wollen.

Sie haben in Ihrem Buch „Dein gerettetes Leben“ auf S. 267 geschrieben:

„Ich kann nicht die Augen anderer Menschen öffnen, sie werden sie schnell wieder schließen. Sie wollen nicht die Wahrheit sehen, oder sie haben Angst davor, weil sie immer noch erwarten, daß sie von ihren Eltern bestraft werden oder von Gott, der die Eltern repräsentiert. Ich kann nur meine eigenen Augen öffnen und sagen, was ich sehe. Manchmal fühlen sich andere Menschen dadurch ermutigt, ihrerseits ein Auge zu öffnen oder sogar beide. Sie sind dann oft überrascht, daß sie nicht bestraft werden, daß sie sich sogar erleichtert fühlen, weil sie aufhören, sich selbst zu betrügen.“

Mit diesem Absatz spiegeln Sie meine (nicht nur gestrige) Lage sehr treffend.

Viele liebe Grüße

Anke Diehlmann

AM: Danke für Ihren sehr wichtigen Bericht. Die Verleugnung des kindlichen Leidens durch nahezu alle Erwachsene, trotz Unibildung und reicher Erfahrung wie z.B. bei den Pädiatern, ist erschreckend. Daran lässt sich ermessen, wie beängstigend, ja bedrohlich der Terror war, in dem sie selbst aufgewachsen sind. Wenn dies nämlich nicht so gewesen wäre, würden doch jetzt zumindest alle gebildeten Menschen mit einer großen Erleichterung auf die Ergebnisse der neuesten neurobiologischen Forschungen reagieren, die das Rätsel der Kindesmisshandlungen lösen. Doch sogar Pädiater weichen diesem Wissen aus, obwohl sie doch aus Beobachtung absolut wissen müssten, dass ein 2jähriges Kind, das Klapse bekommt, Angst erlebt. Wenn sie wissen, dass sich das Gehirn dieses Kindes auf Grund dieser ANGST strukturiert, müssten sie doch nur einen Denkschritt weiter machen, um zu verstehen, dass ein geschlagenes Kind lernt, die Angst und den Schmerz zu verleugnen, sie nicht zu äußern, um nicht nochmals bedroht zu werden. Diese Haltung wird in den ersten 3 bis 4 Jahren zum Bestandteil der Gehirnstruktur.
Genau diese Angst aus der eigenen Kindheit erklärt mE die Ignoranz und die Gleichgültigkeit der Erwachsenen, egal ob sie Ärzte, Therapeuten, Richter oder was immer geworden sind. Nur der Einblick in ihre eigene Kindheit und die Überwindung dieser frühkindlichen Angst vor den Strafen könnte ihre blockierte Empathie zum Leben erwecken. Doch sie fürchten die Hölle ihrer Kindheit wie den Teufel und erklären unbekümmert, dass es keine Hölle war und allen Kindern mit gutem Gewissen ruhig zumutbar sei. Wenn wir nichts tun, um die heutigen Pediater aufzuklären, werden diese Kinder in 30 Jahren genau die gleiche Unwahrheit wiederholen – ebenfalls aus lauter Angst.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet