War meine Kindheit gut oder schlecht?
Friday 18 January 2008
Liebe Alice Miller,
ich bin sehr verwirrt und trage schon lange eine große Unsicherheit und Traurigkeit mit mir herum. Nachdem ich drei Ihrer Bücher gelesen habe („Am Anfang war Erziehung“, „Das Drama des begabten Kindes“ und „Die Revolte des Körpers“) und auch Ihre Website gelesen habe, wende ich mich nun in großer seelischer Not an Sie. Es wäre schön, wenn Sie oder Ihr Team sich die Mühe machen würde, meinen Bericht zu lesen. Ich möchte endlich eine neutrale Meinung von außen hören, was meine Kindheit betrifft, weiß aber natürlich auch, dass nicht jede Zuschrift beantwortet werden kann.
Seit meiner frühesten Jugend leide ich an Depressionen. Vor 3 ½ Jahren bekam ich dann die Diagnose „Multiple Sklerose“, für mich völlig überraschend. Für meine Familie war es klar: Die Krankheit ist erblich. Schicksal. Ein Bruder meiner Mutter ist an MS erkrankt sowie eine Cousine zweiten Grades.
Ich habe die Krankheit jedoch zum Anlass genommen, mir mein Leben einmal genauer anzusehen. Durch Ihre Bücher habe ich mich auch dem mir schmerzlichen Kapitel meiner Kindheit zugewandt. Ich weiß, dass es für MS keine Heilung gibt, aber die Krankheit hat mir die Augen geöffnet und mich zumindest seelisch gesünder werden lassen, wenn man das so ausdrücken kann. Ich achte jetzt viel mehr auf mich, mache es nicht mehr allen recht, bin auch mal egoistisch.
Meine Eltern waren Teenager-Eltern; beide 19 Jahre alt. Zur Heirat wurden sie von ihren Eltern gezwungen, als ich unterwegs war. Sechs Wochen nach meiner Geburt ging meine Mutter wieder Vollzeit arbeiten. Sie gab mich zu meiner Oma, die mich bis zum Alter von 1 ½ Jahren versorgte. Das finde ich heute um so merkwürdiger, da meine Mutter immer wieder betont, wie gern sie schon am liebsten mit 16 Jahren ein eigenes Kind gehabt hätte. Sie hätte sich sehr auf mich gefreut. Am Wochenende hat sie mich gerne herausgeputzt und ist mit mir ausgefahren. Von ihrem Gehalt hat sie schöne und teure Babykleidung für mich gekauft, wie sie heute noch gern hervorhebt.
Als ich anderthalb Jahre alt war, wurde meine Schwester geboren. Meine Oma konnte nicht zwei kleine Kinder versorgen, und so blieb meine Mutter nun zu Hause. Ich kam wieder zu meiner Mutter. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich diesen Wechsel der Bezugspersonen erlebt habe. Ich war noch zu klein.
Als ich zwei Jahre alt war, lernte meine Schwester gerade laufen. Ich war mit meiner Mutter in der Küche; sie wollte Kaffee machen und kochte auf dem Herd Wasser in einem Kessel. Meine Schwester fiel im Nebenzimmer hin und weinte. Meine Mutter ging zu ihr und rief über die Schulter „Fass nichts an!“. Ich fasste aus Neugierde trotzdem an den Kessel mit kochendem Wasser, das sich über mich ergoss. Ich erlitt schwere Verbrühungen. Meine Mutter war mit uns allein zu Haus. Ich erinnere mich an jeden Moment dieses Unfalls und auch an die Wochen danach im Krankenhaus. Alles hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt, obwohl ich erst zwei Jahre alt war. Ich erinnere mich, wie meine Mutter mit mir zum Nachbarn lief, der uns ins Krankenhaus fahren sollte. Dieser Nachbar streute erstmal Mehl (!) in die Wunden, was damals als altes Hausmittel galt. Im Krankenhaus wurden dann meine Hände an die Gitterstäbe eines Kinderbettchens gebunden, damit ich nicht an die Verbrennungen kam, und das Mehl musste mühsam aus den Wunden gekratzt werden. Auch lange danach blieb ich so angebunden. Wegen der Infektionsgefahr durfte lange Zeit niemand zu mir. Meine Mutter durfte ich nur durch eine Glasscheibe sehen. Natürlich habe ich das als so kleines Kind nicht verstanden. Die Schwestern gaben mir immer Pfefferminz- und Kamillentee aus einer Schnabeltasse zu trinken. Ich konnte mich nicht wehren, ich war ja angebunden. Wenn ich heute diese beiden Teesorten rieche, wird mir übel.
Als ich aus dem Krankenhaus zurück war, bin ich oft von zu Hause weggelaufen. Auch daran kann ich mich ganz genau erinnern. Ich weiß nicht genau, warum ich das tat. Irgend jemand aus dem Ort fing mich dann zufällig wieder ein und brachte mich zurück nach Hause. Dort erwartete mich Schimpfe. Trotzdem lief ich immer wieder weg.
Bereits mit drei Jahren musste ich die Große, Vernünftige sein. Meine Schwester war ein Schreihals und wollte stets ihre Wünsche durchsetzen. Wenn sie etwas haben wollte, was mir gehörte, und meine Mutter keine Lust auf Auseinandersetzungen mit einer Zweijährigen hatte, wandte sie emotionale Erpressung an. „Der Klügere gibt nach“, musste ich mir stets anhören. Wenn ich dann immer noch nicht gefügig war, kamen Sprüche wie „Schau mal, wie das Herz deiner Schwester blutet. Willst du das?“ Ich habe mir dann immer bildlich vorgestellt, wie das Herz im Körper meiner Schwester blutet, und gab ihr, was sie verlangte. Ob mein Herz dabei geblutet hat, war anscheinend egal.
Als ich vier Jahre als war, musste ich wieder in Krankenhaus. Die Nasenpolypen wurden operativ entfernt. Mit sieben Jahren das gleiche noch mal: Die Polypen waren nachgewachsen. Da auch die Rachenmandeln mittlerweile chronisch entzündet waren, wurden sie gleich mitentfernt. Besuchszeit war eine Stunde am Tag. Da das Kinderkrankenhaus überfüllt war, musste ich im Erwachsenentrakt liegen. Niemand kümmerte sich, die Schwestern waren furchtbar brutal und in keinster Weise mitfühlend. Weinen wurde mir verboten, weil dann die Wunden im Rachen wieder aufbrachen und Blut auf die Bettwäsche kam, die die Schwestern dann wechseln mussten. Dazu hatten sie keine Lust.
Im Alter von acht Jahren bekam ich noch eine Schwester. Dadurch ergab sich eine neue Familienkonstellation, und jeder musste erstmal seinen Platz neu finden. Meine jüngere Schwester war nun nicht mehr die Kleine, und unsere Mutter hatte weniger Zeit für uns. Auch war es in der Wohnung nun sehr beengt. Zeitgleich zog nebenan eine neue Familie mit einem 13-jährigen Sohn ein. Dieser Junge holte meine mittlere Schwester und mich oft zum Spielen ab. Wir waren ganz begeistert, dass sich ein in unseren Augen so großer Junge mit uns kleinen Mädchen abgab. Bald war klar: Er war sexuell an uns interessiert. Bereits ziemlich groß und weit entwickelt, lockte er uns zusammen mit seinem Freund in eine stillgelegte Kiesgrube, wo sie sich an uns vergingen. Sie hörten nur auf, weil ein Spaziergänger mit Hund vorbeikam. Ich war vorher völlig unbedarft gewesen und verstand gar nicht, was da passiert war. Ich war traumatisiert.
Von nun an weigerte ich mich, mit hinauszugehen, wenn die Jungen klingelten. Meine Mutter verstand das nicht. „Die Sonne scheint so schön, du gehst mit hinaus“, sagte sie. „Ich will hier saubermachen, und ihr steht mir unter den Füßen herum.“ Sie schob mich gegen meinen Protest hinaus, und wieder begannen die Jungen ihr Spiel „Mann und Frau“. Das nächste Mal ging ich nicht mehr mit. Ich sehe mich noch am Kinderzimmerfenster sitzen und meine Schwester und die beiden Jungen beobachten. Sie spielten Fangen mit ihr, indem sie sie zwischen sich hertrieben. Wenn einer sie gefangen hatte, hob er ihren Rock hoch und griff ihr ins Höschen. „Ich hab‘ sie! Ich hab‘ sie!“ rief er dann. Plötzlich kam meine Mutter dazu. Sie sah aus dem Fenster, erfasste die Situation und rief ärgerlich meine Schwester herein. Dann schimpfte sie erstmal mit ihr, weshalb sie sich auf so schmutzige Spiele einließ. Ich sehe uns beide noch dort am Boden kauern, wie zwei kleine, ängstliche Häschen, und unsere Mutter, die sich mit wutverzerrtem Gesicht über uns beugt und schreit: „Haben die sonst noch was mit euch gemacht?!“ Wir hatten solche Angst, dass wir dachten, sie schlägt uns, wenn wir ja sagen. Wir dachten, sie wäre auf uns so wütend. Also haben wir alles abgestritten. Man konnte richtig sehen, wie unsere Mutter aufatmete, aus dem Kinderzimmer ging und in der Küche weiter Essen kochte. Danach wurde nie wieder über dieses Thema gesprochen. Bis zum heutigen Tage. Auch meine Schwester und ich haben nie mehr über das Erlebte geredet.
Zeitgleich zu diesem Ereignis schaffte unser Vater sich als einer der ersten im Verwandten- und Bekanntenkreis einen Videorekorder an. Diese Geräte waren damals ganz neu auf dem Markt und kosteten mehrere tausend Mark. Unser Vater musste immer die neueste technische Spielerei haben. Er liebte es, sich Horrorfilme auszuleihen, die er am Tage schaute. Er war ihm egal, ob wir mitbekamen, was gerade dort im Fernsehen lief. Im Gegenteil, unsere Angst amüsierte ihn. Einmal brachte er eine Raubkopie des Disney-Films „Das Dschungelbuch“ mit. Ganz verzaubert saßen wir noch vor dem Fernseher, als der Abspann begann. Plötzlich brach der Abspann ab, und der Film, der vorher auf der Kassette gewesen und überspielt worden war, wurde sichtbar. Es war die Massaker-Szene eines Horrorfilms. Wie gebannt vor Entsetzen und Ekel blieben wir vor dem Fernseher sitzen. Schließlich rannten wir schreiend zur Mutter in die Küche. Sie sagte nur lahm: „Wilfried…“
Schlafen konnte ich nur noch unter der Decke, weil ich überall Monster sah. Einmal hat meine Mutter nachts nach mir geschaut und stellte fest, dass ich durch das Unter-der-Decke-Schlafen völlig verschwitzt war. Sie nahm mich mit ins Badezimmer, wo sie mich auszog und wusch. Dabei zeterte sie die ganze Zeit. Wieso ich so blöd sei und unter der Decke schlafen würde. Natürlich würde man da schwitzen. Sie hätte nun die ganze Arbeit und müsste mein Bett neu beziehen.
In einem Horrorfilm gab es eine Szene, in der ein Mädchen die Kellertreppe hinuntergeht. Die Treppenstufen waren offen, und unter ihnen wartete ein Monster. Es packte das Mädchen durch die Stufen an den Füßen und zerrte es hindurch, bis es tot war. Seitdem hatten meine Schwester und ich immer Angst, in den Keller zu gehen, da wir genau solche Treppenstufen hatten. Mein Vater hat sich einmal unter der Kellertreppe versteckt, als meine Schwester hinunter musste. Dann hat er wie im Film nach ihren Füßen gegriffen. Meine Schwester ist fast wahnsinnig geworden vor Panik und Angst. Es ist ein Wunder, dass sie nicht gestürzt ist. Bis heute geht sie in unserem Elternhaus nicht alleine in den Keller.
Mein Vater hat sich über unsere Reaktionen amüsiert. Mir hat er zusätzlich immer mit Spukgeschichten Angst gemacht. Wenn ich dann vor Angst weinte, hat er gelacht. Er hat auch gerne, wenn wir zufällig an ihm vorbeigingen, unvermittelt nach uns geschnappt. Er war ein durchtrainierter, starker junger Mann, und seine Hände, die sich um unsere Handgelenke schlossen, waren wie Schraubstöcke. Er ließ uns nicht wieder frei. Erst wurden wir wütend und versuchten, nach ihm zu treten; irgendwann fühlten wir nur noch unsere Ohnmacht und weinten. Dann lachte er. Man wusste nie, ob er uns küssen oder schnappen wollte.
Nach diesen drei Ereignissen, die zeitlich zusammenfielen (neue Schwester, sexueller Missbrauch, Ansehen von Horrorfilmen) wurde ich wieder Bettnässerin. Zusätzlich entwickelte ich Zwangshandlungen. Meine Mutter bekam dies irgendwann mit und sagte drohend zu mir: „Wenn du das noch einmal machst, kommst du in die Klapsmühle!“ Nun war ich in großer Not. Ich musste jetzt alle Zwangshandlungen heimlich vornehmen.
Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich auch in dieser Zeit anfing, Tiere zu quälen. Dabei liebe ich Tiere über alles! Ich kann schlecht darüber schreiben, weil ich mich sehr dafür schäme.
Es ist wahrscheinlich müßig, zu erwähnen, dass ich ein außerordentlich angepasstes, liebes, braves und bescheidenes Kind war. Niemals aufmüpfig, niemals wütend. Ich „funktionierte“. Wenn man mir sagte „Gibt’s nicht“, dann fragte ich kein zweites Mal. Ich hatte als Kind nur zwei Wünsche: Klavier- und Ballettunterricht. Beides wurde mir verwehrt mit dem Hinweis, wir könnten es uns nicht leisten. Erst vor wenigen Wochen, während eines Gesprächs mit meiner mittleren Schwester, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Uns wurde stets eingeredet, wir seien arm. Schließlich verdiente mein Vater so viel, dass unsere Mutter nicht arbeiten gehen musste. Alle paar Jahre stand ein neues, noch schnelleres Auto vor der Tür. Dazu die technischen Spielereien meines Vater, und einmal im Jahr mit der ganzen Familie für drei Wochen nach Italien musste auch sein.
Heute muss ich verbittert daran denken, dass dieser Urlaub ein ganzes Jahr Klavierunterricht bezahlt hätte. Außerdem verlieh die örtliche Musikschule damals Klaviere an arme Familien, aber das weiß ich erst heute. Ich habe nicht wieder gefragt, als man meine Bitte nach Klavier- oder Ballettunterricht abschmetterte. Es waren die einzigen Wünsche, die ich je als Kind gehabt hatte. Es mag das nachträgliche schlechte Gewissen gewesen sein, das meine Eltern letztes Jahr dazu veranlasste, mir völlig überraschend ein Klavier zu schenken. 25 Jahre zu spät, würde ich sagen.
Als Kind liebte ich die Farbe Rosa. Am liebsten hätte ich rosa Kleidung gehabt, rosa Bettwäsche und mein Zimmer rosa eingerichtet. Meine Mutter war dagegen, weil sie Rosa nicht mochte. Wünschte ich mir eine rosa Kuscheldecke, bekam ich eine braune. Wollte ich rosa Tapeten für mein Zimmer, strich sie es beige. Als ich sie einmal fragte, warum sie meine Wünsche ignorierte, meinte sie, sie müsse mich von diesem „Rosa-Trip“ runterbringen. Auch heute noch ist Rosa meine Lieblingsfarbe, und jetzt, als Erwachsene, kann ich meine Leidenschaft endlich ausleben. Natürlich hatte ich in meinem damaligen Kinderzimmer auch einige rosa Gegenstände, aber sie kamen erst nach meiner Konfirmation dazu, als ich selbst etwas Geld hatte. Als jüngeres, völlig auf die Eltern angewiesenes Kind bekam ich nichts in Rosa. Ich glaube, ich hätte die Farbe damals recht schnell über gehabt, wenn meine Mutter meine Wünsche nicht boykottiert hätte.
Ich lernte sehr eifrig und brachte stets gute Noten nach Hause. Die erhoffte Reaktion blieb aber aus. Wenn ich meiner Mutter wieder stolz eine Eins unter die Nase hielt, schaute sie kaum von ihrer Hausarbeit auf und meinte nur: „Ich habe nichts anderes erwartet.“ Ich bin die Einzige, die in meiner Familie Abitur gemacht und studiert hat. Ich glaube, mit ein Anlass dafür war der unbewusste Wunsch, irgendwann würden meine Eltern mich doch noch loben und meine Leistungen anerkennen. Heute weiß ich, dass das nicht mehr passieren wird. Das erfüllt mich mit großer Trauer.
Im Alter von 2, 9 und 10 Jahren bekamen wir drei Schwestern zeitgleich Windpocken. Meine Mutter hatte irgendwo gehört, dass man das Abheilen der Pocken beschleunigen könne, indem man die Kinder möglichst heiß badet. Dadurch sollten sich die Pocken ablösen, und man könnte sie dann mit einem Handtuch abrubbeln. Gesagt, getan. Wir kamen alle in die Wanne, und anschließend rubbelte meine Mutter auf uns herum. Bei mir saßen die Pocken aber noch sehr fest und lösten sich kaum. Meine Mutter rubbelte und rubbelte, und mir wurde langsam schlecht, weil es auch weh tat. Ich bat sie, aufzuhören, was sie ignorierte. Schließlich sank ich ohnmächtig in der Wanne zusammen. Meine Mutter bekam einen Lachanfall, weil ich angeblich so verweichlicht sei, und rief unseren Vater. Er trug mich pitschnass aus der Wanne aufs Sofa und war sehr ärgerlich, weil das Sofa nun Wasserflecken bekam. Ob ich mich denn nicht hätte zusammenreißen können, wollte er von mir wissen. Einige Windpockennarben habe ich noch heute.
Als ich 11 Jahre alt war, verweigerte meine Mutter mir eines Abends den Gute-Nacht-Kuss. Ich dachte zuerst, sie macht Scherze, und versuchte, ihr den Kuss doch noch abzuringen. Aber sie stieß mich fort. „Du bist jetzt alt genug, das wird mir zu affig“, sagte sie nur. Ich verstand die Welt nicht mehr, ging ins Bett und weinte mich in den Schlaf. Einen Kuss bekam ich nie wieder.
Meine Schwestern und ich können uns nicht erinnern, dass unsere Eltern auch nur einmal zu einem Elternabend in die Schule gekommen sind. Am nächsten Tag durften wir uns stets die Bemerkungen der Lehrer anhören: „Manche Eltern haben es anscheinend gar nicht nötig, sich um die Belange ihrer Kinder zu kümmern.“ Wie schämten wir uns da!
Mit Beginn der Pubertät litt ich zunehmend unter depressiven Verstimmungen. Einmal versuchte ich vorsichtig, mit meinen Eltern darüber zu sprechen. Mein Vater polterte: „Dir geht es viel zu gut! Du solltest mal richtige Probleme haben. Dann hättest du auch keine ‚Depressionen‘ mehr!“ Danach war das Thema erledigt.
Heute bin ich bei einer Psychotherapeutin in Behandlung. Sie sieht ihre Aufgabe vorrangig darin, mir bei der Bewältigung meiner Krankheit zu helfen. Ich gehe jetzt ein halbes Jahr zu ihr, und sie hat erst einmal nach meiner Kindheit gefragt – am Ende einer Stunde, in den letzten fünf Minuten. Wie ein Sturzbach brach es aus mir heraus, und ich erzählte einige Einzelheiten. Der Therapeutin verschlug es angesichts meines Ausbruchs sichtlich die Sprache, und sie schien froh zu sein, dass die Stunde vorbei war. Ich hatte den Eindruck, dass sie überhaupt nicht mit meinen Erinnerungen konfrontiert werden wollte. Für mich ist ganz klar, dass dort der „Knackpunkt“ liegt. Bis jetzt hat sie das Thema Kindheit nicht mehr zur Sprache gebracht. Wir dümpeln immer nur um die Krankheit herum. Jede Stunde beginnt mit einem „Und wie geht es Ihnen heute?“ Ich muss sagen, die Therapie bringt mir gar nichts. Es ist das erste Mal, dass ich in Behandlung bin, und ich weiß nicht, ob ich mir da schon ein Urteil erlauben darf.
Meine Schwestern und ich sind mit Problemen nie zu unserer Mutter gegangen. Wir spürten irgendwie instinktiv, dass sie damit nicht „belästigt“ werden wollte. Ich zumindest habe immer alles mit mir selbst ausgemacht. Während ich als Älteste angepasst und strebsam war, schlug meine mittlere Schwester ins andere Extrem: Aufmüpfigkeit, zwielichtige Freunde, Diebstahl, Drogen, Schulversagen. Auch sie war als Erwachsene in psychologischer Behandlung, wurde aber leider nach der „schwarzen Pädagogik“ behandelt. Sie hat unseren Eltern alles verziehen und versucht mich zu überreden, es ihr gleichzutun. Sie ist trotzdem ständig krank.
Ich habe vor sieben Monaten den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen. Nachdem ich Ihre Bücher gelesen habe, wurde ich sehr wütend, und bin jetzt in der Trauerphase. Meine Verwandten setzen mich arg unter Druck. Aber wie kann ich nett zu jemandem sein, der meine Seele so zerstört hat? Ich bekomme immer zu hören, ich solle nicht so egoistisch sein und auch an die Eltern denken. Aber wer denkt an mich? Ich habe eine schlimme Krankheit, für die es keine Heilung gibt. Wenn ich mein letztes bisschen Gesundheit nicht auch noch verlieren will, muss ich so handeln.
Multiple Sklerose bedeutet „vielfache Verhärtungen“. Ich denke, dass die Krankheit ein Spiegel meiner Seele ist. Ich musste mir als Kind eine harte Schale zulegen, um überleben zu können. Ich habe nichts mehr an mich herangelassen, um keinen Schmerz zu spüren. Jetzt, als Erwachsene, schlägt sich die damals lebensnotwendige Strategie in dieser Krankheit nieder.
Dies ist mein erster Winter ohne Depressionen, was eine ganz neue Erfahrung für mich ist. Es ist wie ein neues Leben. Ich habe auch keine Lust mehr auf die angebliche Hausstaubmilbenallergie, die merkwürdigerweise nur ausbricht, sobald ich die Schwelle zu meinem Elternhaus übertrete. Ich kann mich dann kaum retten vor Niesattacken, verstopfter Nase und tränenden Augen. Auch im Hals kratzt es. Ich deute es so, dass ich von irgendetwas gehörig die Nase voll habe.
Von Verwandten höre ich zwar immer, dass meine Eltern mein Verhalten missbilligen und meine Besuche einfordern, aber meine Eltern haben noch kein einziges Mal gefragt, warum ich eigentlich nicht mehr komme. Ich glaube, sie haben Angst vor der Antwort.
Meine Eltern haben auch noch nie gefragt, ob ich glücklich oder traurig bin. Wenn sie früher angerufen haben, fragten sie stets: „Und, was habt ihr so gemacht?“ Oder wenn sie fragten, wie es mir geht, meinten sie damit, ob ich irgendwelche körperlichen Symptome durch die MS habe. Wenn sie von sich erzählten, dann von den Nachbarn, die ihre Veranda ausgebaut haben, oder von der bösen Tante, die zum Geburtstag nicht angerufen hat.
Hat meine Mutter bei einem unserer Besuche etwas besonders Leckeres zubereitet und bekommt dafür von uns Lob, antwortet sie spitz: „Drei Stunden habe ich dafür in der Küche geschuftet!“ So hat man ständig ein schlechtes Gewissen. Auch arbeitet meine Mutter viel mit emotionaler Erpressung. Das hat sie auch schon in meiner Kindheit getan. „Das ist also der Dank!“ ist ihre Standard-Formel.
Mein Bericht muss den Eindruck erwecken, dass ich eine schreckliche Kindheit hatte. Aber wie Sie in Ihren Büchern schildern, gab es auch die andere Seite: Unsere Mutter sang, bastelte und zeichnete mit uns. Wir hatten immer genug zu essen, waren gut gekleidet und hatten viele Spielsachen. Unser Vater hat uns Puppenhäuser gebaut, war mit uns schwimmen und rodeln. Ich bin so hin- und hergerissen; war meine Kindheit nun gut oder schlecht? Ich glaube, die schönen Erinnerungen haben die schlimmen Episoden überlagert. Erst jetzt traue ich mich, genau hinzusehen und wahrzunehmen, wie sehr ich gelitten habe und wie einsam ich war. Meine Schwester bekam von ihrer Therapeutin die Diagnose „emotionale Vernachlässigung“, was sicherlich nicht ganz falsch ist.
Sie dürfen meine E-Mail gerne anonymisiert veröffentlichen. Danke für die wundervolle Arbeit, die Sie leisten! Nicht viele Menschen können von sich sagen, dass sie in ihrem Leben etwas geschaffen haben, was nachwirkt.
Herzlichst, J. R.
AM: Das Tragische ist, dass Sie noch fragen können: War meine Kindheit gut oder schlecht? So lebten Sie Jahrzehnte lang mit dieser Selbstlüge, die Sie krankgemacht hat. Nun nähern Sie sich der Wahrheit und hatten diesen Winter keine Depression. Das zeigt, dass Sie fähig sind, Ihre schwere Krankheit aufzulösen, wenn Sie sich nicht mehr belügen und keine Illusionen mehr hegen. Ihre Therapeutin sollten Sie auf jeden Fall meiden und Ihre ganze Familie auch, wenn Sie gesund werden wollen.