Ich sehe aus wie ein Baby!

Ich sehe aus wie ein Baby!
Monday 11 June 2007

Sehr geehrte Frau Miller und Frau Rogers,

vorgestern habe ich Ihre Website entdeckt und ihre Beiträge gründlich gelesen.

“Ich sehe aus wie ein Baby!” habe ich heute morgen zu meiner Frau gesagt. Ich habe so ein Bäuchlein, die gleiche Art der Brustmuskulatur, dazu proportional schlanke Arme und Beine. Ich habe 10-11 Dioptrien, d.h. ich sehe auch so schlecht, wie ein Baby in den ersten 3 Monaten. Aufgrund der Brille, habe ich auch so einen Augenausdruck. Ich habe jeden Abend Probleme einzuschlafen. Um 23:00 Uhr bekomme ich immer Hunger. Ich lese solange, bis ich so fertig bin, dass ich einschlafen kann. Dann schnarche ich und wache morgens auf mit Halsschmerzen und brennenden Augen. Tagsüber brauche ich immer wieder Pausen. Nur zu funktionieren, kostet mich die meiste Kraft.

Der Körper erinnert sich, aber der Geist vergisst, schreiben sie. Woran erinnert sich mein Körper? Vermutlich daran, dass mich meine Eltern die ersten drei Monate meines Lebens haben schreien lassen. Jede Nacht. Bis ich so fertig war, das ich durchgeschlafen habe. Meine Mutter hat mir einmal erzählt, dass sie, als ich drei Monate war, mit ihrer Nachbarin gesprochen hat und ganz stolz war, das ich schon durchschlafe. Daraufhin hat die Nachbarin erwidert, nein, das hat er nicht getan, er hat jede Nacht geschrien, sehr lange und dann hat er irgendwann aufgegeben. Mein Mutter hat daraufhin gelacht und gesagt, na da haben wir ihn wohl nicht gehört. Ich war sprachlos und wie gelähmt, als sie mir das wie eine lustige Anekdote erzählt hat.

Seit ich denken kann, fühle ich mich einsam. Habe ich Existenz- und Todesängste. Fühle ich mich von meine Eltern gedemütigt, manipuliert und erniedrigt. Ich habe früh mit dem Rauchen und Trinken angefangen. Bin jetzt 33 und nüchtern. In einer systemischen Aufstellungen wurde ich aufgefordert, mich vor meinem Vater verneigen und “Ja, Lieber Papa!” sagen. Ich konnte es nicht. Da war soviel Wut, Hass und Enttäuschung in mir. Der Aufsteller, ein international anerkannter Mann, hat dann alle Teilnehmer der Gruppe als Familienmitglieder um mich herumgestellt. Nach einer Stunde, war meine Widerstand gebrochen und ich habe es gesagt. Danach habe mich wie vergewaltigt gefühlt. Meinen Hass auf meinen Vater, hat diese Aufstellung in keiner Weise verringert.

Wie gefühlskalt und sadistisch das Handeln meiner Eltern ist, verstehe ich erst, seitdem ich jetzt selbst Vater eines 8 Monate alten Sohnes bin. Wir haben lassen ihn nicht alleine weinen, sondern tragen in herum, wenn er traurig ist, nicht einschlafen kann oder Zahnschmerzen hat. Mindestens einer von uns ist immer bei ihm und sorgt dafür, dass er sich geborgen und gut aufgehoben fühlt. Und wenn einer von uns an seinen Grenzen ist, dann unterstützen wir uns gegenseitig, unserem Sohn liebevoll zugewandt zu sein. Bisher haben wir ihm kein Leid angetan. Darauf bin ich wirklich stolz. Wie kann man sein Baby nur schreien lassen?

Ich finde es so entlastend, dass ich es jetzt meine Eltern, als das sehen kann, was sie wirklich sind: herzlos, sadistisch und missbräuchlich. Das ich sie nicht ehren muss. Nicht “Ja, lieber Papa!” sagen muss. Das ich wütend und empört sein darf. Da fühle ich mich gleich ein paar Jahre jünger. Wenngleich es mir extrem schwer fällt, diese Empörung zu spüren. Es ist wie eine große Mauer zwischen mir und der Empörung. Vielleicht haben sie eine Übung für mich, um dieses Gefühl deutlicher wahrnehmen zu können.

Meinen Dank für Ihre Einsichten, die mein Leben reicher und lebendiger machen.

M. F.

AM: Sie können keine Empörung empfinden? Auch nicht gegen den “Aufsteller”, der Sie vergewaltigt hat und dem Sie das erlaubten, weil das gefolterte Kind in Ihnen so schreckliche Angst hatte, sich zu widersetzen?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet