Meine Wahrheit ist mir wichtig

Meine Wahrheit ist mir wichtig
Friday 01 September 2006

Liebe Frau Miller,

seit über einem Jahr lese ich immer wieder Ihre Bücher. Haben Sie vielen Dank für Ihren Mut! Auch dank Ihrer Bücher beginne ich langsam, das einsame Kind, das ich war, aus dem Keller herauszulocken. Ich bin Schriftstellerin, und ich glaube, darum haben mich Ihre Bücher besonders betroffen gemacht. Meine Kunst hat einen so schrecklichen Inhalt, und doch war mir nie klar, was ich da eigentlich erzähle. So nach und nach verstehe ich auch emotional, dass Sie recht haben, wenn Sie sagen, dass der Künstler oft verdrängte Kindheitstraumen erzählt. Meine Theaterstücke, Prosatexte, meine Gedichte erzählen fürchterliche Geschichten von Eltern, die ihre Kinder umbringen, vom Vampirmüttern, die das Blut ihrer Kinder trinken, von gewalttätigen Vätern usw.
Ich bin als “Frühchen” geboren und lag 2 Wochen allein in einem Wärmebettchen im Krankenhaus, meine Mutter hat mich täglich kurz besucht. Als ich dann nach Hause kam, war ich sehr schwach, und konnte (laut meiner Mutter) nicht gestíllt werden. Ich verlor immer mehr an Gewicht und wäre beinahe gestorben, meine Eltern weckten mich jede Stunde auf, um mir das Fläschchen zu geben. Es regt mich so auf, dass sie nicht verstanden haben, dass ich einfach nur an Mama’s Brust wollte, und deshalb so schwach war, weil mir das verweigert wurde. Aber sie haben nichts von mir verstanden und mich mit 2 Monaten in die Kinderkrippe gegeben. Gut, man kann sagen, all das war in der DDR so üblich, und abgesehen von diesen Dingen haben mich meine Eltern geliebt. Aber das ist eine Lüge. Mein Vater hat mich und meine Geschwister schon als Kleinkinder geschlagen, und gleichzeitig diese Schläge abwechselnd verleugnet oder als gerechtfertigt ausgegeben. Ich kann heute noch nicht ruhig unter Menschen sein, ohne plötzlich Schläge aus dem Hinterhalt zu fürchten. Meine Mutter ist mindestens seit meiner Geburt depressiv, sie hat bis vor wenigen Jahren nach eigenen Worten nie gelacht, sich nie des Lebens gefreut. Ich erinnere mich an ihr ewig gleichgültiges Gesicht, sie war auch ständig krank, und vor allem hat sie mich nie vor meinem Vater beschützt. Ich weiß noch, dass ich 6 oder 7 Jahre alt war, als mein Vater mir, weil ich “böse” war, nicht liebevoll Gute Nacht sagte, sondern nur meiner kleinen Schwester. Vor Wut und Verzweiflung und Eifersucht habe ich, als er aus dem Zimmer war, meine Schwester gehauen. Da stürmte er zurück ins Zimmer, verprügelte mich, und als ich einen Weinkrampf bekam, schrie er immerzu “da müssen wir dich kalt abduschen, wenn du nicht aufhörst”. Ich konnte nicht aufhören zu weinen, und weiß noch, ich dachte “da geht die Welt unter, das kann er einfach nicht machen, da geht ja dann die Welt unter”, und dann haben mich meine Eltern gemeinsam in die Badewanne gestellt und mich wirklich kalt abgeduscht. Meine Mutter hat ihm geholfen. Was hat das mit Liebe zu tun? Mein Vater ist schon vor vielen Jahren sehr jung an Leberkrebs gestorben und alle hängen noch an ihm, auch meine Geschwister. Ich habe dank Ihrer Bücher, Frau Miller, die Kraft gehabt, den Kontakt zu meiner Mutter abzubrechen, was mir sehr gut tut. Sie schickt mir ab und an schriftliche Beteuerungen, wie lieb sie mich hat. Das quält mich sehr. Was soll ich tun? Einmal habe ich ihr einen Brief geschrieben, und ihr ehrlich gesagt, was ich über meine und auch ihre Kindheit denke. Sie geht nicht darauf ein. Meine Geschwister halten zu meiner Mutter, und helfen mir nicht. Obwohl mein Bruder sich teilweise an die Dinge erinnert, die mein brutaler Vater getan hat, sagt er, ich wäre auch längst ein Täter geworden, weil meine Schwester (3 Jahre jünger als ich) sehr unter mir gelitten hätte. Und mein Vater wäre ihr Beschützer gewesen. Ich bin sehr verzweifelt darüber, von meiner Familie so ausgestoßen zu sein. Aber meine Wahrheit ist mir so wichtig, und ich habe gute Freunde, die mir helfen. Und andere Menschen sind in Gefahr, Opfer meiner Aggressionen zu werden, wenn ich meine Kindheit nicht wiederentdecke. Ich will nicht, dass unschuldige Menschen für etwas büßen sollen, was sie gar nicht getan haben. Ich muß meine mörderische Wut gegen meine unmenschlichen Eltern fühlen, die andern Menschen haben damit nichts zu tun, das wußte ich irgendwie immer, das hat mich abgehalten, mich an jemand anderem zu rächen. Anhand meiner Gefühle ahne ich, was mir alles passiert ist. Meine einzige Rettung ist doch, auf diese Gefühle zu hören, oder? Wieso darf ein Vater seine kleinen Kinder zusammenprügeln, und wird dann von ihnen geliebt? Das ist doch verrückt. Warum muß ich mich verteidigen, wenn ich einen Gewalttäter anklage? Ich bin doch gar nicht wie mein Vater, egal, was meine Schwester sagt. Haben Sie einen Rat für mich? Ich will doch auch nicht ganz ohne Familie dastehen, das ist so schwer.
Viele Grüße und vielen vielen Dank,

A. K.

AM: Es ist so gut begreiflich, dass Sie so stark die Sehnsucht spüren; diese hatten Sie in sich, solange Sie leben. Damals, im Brustkasten wussten Sie noch nicht, dass Ihre Eltern kein Herz für Sie hatten, woher hätte das winzige Wesen es wissen können? Es brauchte ganz dringend Eltern, die bei ihm bleiben und ihm ganz ganz viel Liebe zeigen. Das haben sie nicht getan und später haben sie Sie gequält. Das wissen Sie jetzt. Und DIESES WISSEN müsste Sie von der alten Sehnsucht schützen, auch wenn Sie sie verstehen. Und Sie können dem kleinen früh geborenen Kind in Ihnen die Liebe schenken und den Schutz vor Ihren grausamen Eltern, die Sie jetzt kennen. Ich wünsche Ihnen viel Mut zu Ihrer Wahrheit.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet