Der Preis der Heuchelei

Der Preis der Heuchelei
Wednesday 26 November 2008

Liebe Frau Miller,

ich möchte mich von Herzen bedanken für Ihre Antwort, die mich sehr bewegt
hat, denn Sie scheinen den Zorn zu spüren, der mir wohl abgeht. Mich
überwältigen nur immer Trauer und Sinnlosigkeit – und ja, Sie haben Recht, ein
tiefes Schuldgefühl. Ich will meiner toten Mutter gegenüber nicht ungerecht
sein – sie hatte kein leichtes und ein enttäuschendes Leben. Immer wieder hat
sie mir und meinen Geschwistern unter Tränen gesagt, daß sie uns doch liebe
und soviel Undank, Ungehorsam und Ablehnung durch eben diese Kinder nicht
verdient und erwartet habe.
Sie hat wohl ihr ganzes Leben auf Zuwendung und Liebe gehofft, die sie nicht
bekommen hat. Das ist doch nun wahrhaft erschütternd.
Ich weiß, ich konnte weder als Kind, noch als Erwachsener ihre seelischen
Wunden heilen… Aber gerade diese vielen Szenen, in denen sie weinte,
schluchzte oder auch hysterisch war, in jedem Falle verzweifelt, nagen noch
immer an mir.
Das Merkwürdige ist, daß ich mit niemandem darüber sprechen kann – denn alle
Freunde und Verwandte wollen mir stets predigen, daß sie eine schwer geplagte
Frau gewesen sei, die ihr Leben für ihre Kinder aufgeopfert habe… Selbst
meine Geschwister können mir nicht beistimmen; oder ich bekomme von Freunden
vorgeworfen, ich hätte einen „unbewältigten Ödipuskomplex“ oder
solle doch mal endlich die Vergangenheit ruhen lassen. Für meinen Vater bin ich
sowieso nur ein undankbares Kind, skrupellos und kaltherzig egoistisch.
Ich komme mir entsetzlich schlecht vor, ewig meine Mutter zu belasten… Dabei
haben Sie Recht, sie hat ihre „Aufgabe“ perfekt erfüllt – ich setze
die Dressur fort, die sie begonnen hat.
In meinen Aufzeichnungen, von denen ich berichtet habe, phantasiere ich mich in
bestimmten Abschnitten in die Gedankenwelt meiner Mutter und bin erschrocken,
wie sehr sie gegen mich gewütet hat, wie sie jede Kreativität, jedes Gefühl,
das ihr nicht paßte mit Aberwitz zu unterdrücken versuchte.
Immer wieder tauchte sie als Nachtmahr in meinen Träumen auf, reißt an meinem
Körper herum und an meinen Geschlechtsteilen, legt ihre ARme um meinen Hals,
schmeichelt mir wie eine Geliebte, nur um mir im nächsten Moment mit eisiger
Kälte zu berichten, sie habe Krebs und ich sei Schuld daran.
Sie bekam tatsächlich Krebs, nachdem ich einmal versucht habe, den Kontakt
abzubrechen. Als ich hörte, sie läge auf Leben und Tod im Krankenhaus, bin ich
wieder hingepilgert. Ihr erster Satz, als sie mich sah, war unter
Tränenschauern: „Ich dachte schon, ich sterbe und sehe dich nie
wieder!“
Das war ein Schlag ins Gesicht – denn dieser Satz impliziert ja sovieles. Sie
ist danach wieder genesen, obwohl die Prognose extrem schlecht war – und lebte
dann noch ca. acht Jahre. Es ist, als habe ihr mein Besuch den Willen zu
gesunden zurückgegeben. Denn jetzt war ich ja wieder in ihrem Einflußbereich –
und tatsächlich, als ich, zwei Jahre, bevor sie starb, noch einmal den Kontat
abbrach, weil ich merkte, daß alles, was ich tat, nicht genügte, daß immer
noch Verlogenheit und Bigotterie bei meinen Eltern herrschte, da starb sie dann
auch wirklich aus heiterem Himmel, ohne krank zu sein. Den letzten Rest gab ihr
wohl mein Umzug in einer Nachbarstadt, vor dem sie auf Umwegen erfahren hatte –
denn jetzt konnte sie mich, ihrer Vorstellung nach, gar nicht mehr erreichen.
Dies sind die Zwickmühlen und Fallen, in denen ich stecke – kein Wunder, daß
ich meine Gefühle beherrsche, denn ich will ja nicht wie meine Mutter andere
Menschen mit meinen Gefühlen manipulieren.
Sie, liebe Frau Miller, werden auch nichts weiter können, als immer wieder den
Zorn zu reklamieren…
Aber wenn ich nur daran denke, wieviele Lebenschancen, ich verpaßt habe, dann
schüttelt mich – wie gesagt – nur noch die Trauer.
Vielleicht kann ich aber immerhin mit meinem Beispiel anderen Menschen Mut
machen, früher zu rebellieren…
Nochmals Vielen Dank für alle Ihre Mühen und Gedanken.

AM: Man kann einen Menschen nicht hassen, solange man ihn bemitleidet. Das ist einfach unmöglich. Doch Ihr BERECHTIGTER HASS auf Ihre Mutter WÜTET in Ihrem ganzen Körper und zerstört IHR Leben, er muss endlich raus. Hören Sie auf mit der Heuchelei und dem Mitleid, sie hat Ihr Mitleid nicht verdient, denn sie hat Ihr Leben zerstört. Das vergessen Sie immer wieder. SIE SIND NICHT SCHULD AN IHREM TOD, das sind nur die Lügen, die Sie geschluckt haben und an denen Sie würgen, wie an den Glasscherben in Ihrem Traum.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet