Werde ich es schaffen?

Werde ich es schaffen?
Wednesday 04 July 2007

Liebe Alice Miller,

Immer häufiger tauchen äußerst starke Gefühle aus meiner sehr frühen Kindheit auf. Gefühle von totaler Bedrohung, Todesangst, tiefster Verzweiflung. Ich versuche, diese Gefühle zu fühlen, und mich zu trösten und mich auch trösten zu lassen. Ich versuche die Gefühle des verlassenen Säuglings, der um sein Leben kämpfen muß, obwohl er doch ein Säugling ist und kein Held, auszuhalten, weil es meine sind. Aber immer wieder ist die Bedrohung so enorm, dass ich glaube jetzt auseinanderzufallen und zu sterben. Ich weiß, daß diese Gefühle der damaligen Situation entsprechen. Ist es Ihre Überzeugung, daß ich diese Gefühle wirklich aushalten werde und nicht daran sterben muß? Denken Sie auch, daß, wenn der Körper überlebt, man auch die früher verdrängten Gefühle überleben kann? Ich war einige Zeit wegen posttraumatischer Belastungsstörung in der Klinik und habe große Angst, nochmals solche Zustände zu erleben, bei denen sich meine Persönlichkeit und mein Bewußtsein auflöst. Ich weiß, dass mir von anderen Menschen solche Grausamkeiten zugemutet wurden. Dann regt sich die Wut, die ich mir endlich erlaube, und der Ausdruck dieser Wut gibt mir große Kraft. Dennoch verläßt mich immer wieder mein Mut und auch die Möglichkeit, heute Trost zu finden, ist begrenzt. Wer möchte sehen, fühlen, was ein Neugeborenes durchmacht, das allein um sein Leben kämpft? Ich muß es fühlen, weil es meine eigene Geschichte ist. Glauben Sie, daß ich es schaffen werde?

Viele Grüße, A. K.

AM: Sie haben es ja schon geschafft, Sie haben das Grauen und die Todesangst ÜBERLEBT. Da waren Sie ja noch so winzig klein. Jetzt sind Sie groß und wollen Ihre Geschichte ERLEBEN. Das können SIe, und heute droht Ihnen keine Gefahr, auch wenn sich das so anfühlt. Sie sagen deutlich, dass Sie Ihre Geschichte kennenlernen, fühlen und verstehen wollen, daher habe ich, aufgrund Ihres Briefes, keine Zweifel, dass Sie das können und dass Sie diese Erlebnisse von vielen Schmerzen und Unsicherheiten befreien werden. Lassen Sie sich nicht von „spirituellen“ Spekulationen verwirren, um der Wahrheit auszuweichen. Die Wahrheit zu sehen, wird Sie retten, nicht die Flucht davor. Und die Schmerzen dauern nicht ewig, wenn man deren REALEN Grund verstehen will. Und das wollen Sie ja. Manche Therapeuten helfen zwar, starke Gefühle zu erleben, aber scheuen sich, die furchtbare REALE Not eines verlassenen Säuglings nachzuempfinden und bieten statt dessen verschiedene Theorien an. Damit verwirren sie die Patienten und lassen sie in ihren unaufgelösten Schmerzen rotieren, aus denen die Theorien angebliche Lösungen anbieten. Sie sind auf dem besten Weg, sich nicht verwirren zu lassen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet