Meine Kindheit ohne Zeugen
Sunday 30 July 2006
Sehr geehrte Frau Miller,
ich habe gerade erst mit großem Interesse Ihr Buch „Am Anfang war Erziehung“, sowie Auszüge aus „Die Revolte des Körpers“ gelesen. Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Literatur und habe eine für mich sehr wichtige Frage an Sie.
Ich beschäftige mich schon länger mit den Konsequenzen einer drakonischen „Erziehung“, ich bin in Psychotherapie und es wurde bei mir eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Meine Mutter leidet unter einer sehr starken Persönlichkeitsstörung, die sich u.a. in einem krankhaften Geltungsdrang äußert. Sie war, bevor sie 1998 Witwe wurde, seit Ihrem 22. Lebensjahr verheiratet. Die Genetik Ihres Ehemannes (wie Sie sich selbst ausdrückte) war nicht gut genug, um ein Kind von ihm zu bekommen, also hat sie eine Affäre mit einem, so klischeehaft es auch klingen mag, millionenschweren Akademiker begonnen, dem Sie, ehemals Verkäuferin und seit Beginn ihrer Ehe mit 22 Jahren nicht mehr berufstätig, ihm erzählt hat, sie wäre eine Studienrätin französischer schwerreicher Herkunft mit einer großen Familie, die sich einmal jährlich in der Karibik trifft etc.etc. Das Resultat dieser Affaire bin ich. Meine Mutter war 43 Jahre alt, als ich geboren wurde und 15 Jahre zuvor hat sie nicht mehr mit ihrem Ehemann geschlafen, nachdem sie, wie ich gehört habe, 2 Schwangerschaften mit ihm als Vater hat abbrechen lassen. Die Kindheit war ebenso von diesem Geltungsdrang, der Dominanz und der Lebensuntüchtigkeit meiner Mutter bestimmt. Zur Lebensuntüchtigkeit soviel, daß Sie immer stolz darauf war, daß sie einen Säugling gehabt hätte, der schon mit 3 Monaten durchgeschlafen hat, weil sie eben nicht, wie die anderen Mütter auf das Schreien Ihres Kindes reagiert hat. Der Tagesablauf war vollkommen verzerrt, nachts war sie wach und tagsüber lag sie bis 15 h im Bett. Mit 4 Jahren hab ich um 13h den Frühstückstisch gedeckt, als Anregung, daß sie endlich aufsteht. Gespielt wurde mit mir nie, etwas Kindergerechtes unternommen ebensowenig. Als ich in der Schule war und ein Mädchen von weiterher kennengelernt hat, konnte ich die Brieffreundschaft nicht weiterführen, da sie mir verboten hat, allein einen Brief zu schreiben, da der ja peinlich sei. So etwas sollte ich mit ihr gemeinsam machen. Da sie aber auf jede Bitte, diesen Brief zu schreiben, gereizt reagierte und rumbrüllte, das wir das mal später machen würden, starb diese Brieffreundschaft, nachdem ein Brief von dem Mädchen nie beantwortet wurde. Dies ist nur ein Beispiel von hunderten, die sich in meiner Kindheit vollzogen bezüglich Ihrer Lebensuntüchtigkeit. Mit 8 Jahren gab es keine Geschenke mehr zu Weihnachten, einfach, weil sie mit der Organisation überfordert war. Meine Kindheit bestand aus unentwegter Unterdrückung und Schnauzerei, was sich in relativ kleinen Dingen äußerte, wie z.B. darin, daß mich keine Kinder besuchen durften, daß ich lange Haare tragen mußte, und ich nostalgisch altmodische Kleidung, für die ich schwer gehänselt wurde, sowie in schwerwiegenderen Dingen, z.B. daß sie mich in Ihr Lügenschema einbezogen hat. Ich mußte Schulnoten lügen, was gar nicht möglich war, weil die Kinder mich, wie sie auch regelmäßig verlauten ließen, für „einen Idioten“ hielten. Mit 8 Jahren kam ich mit einem mittelmäßigen Zeugnis nach hause und meine Mutter fragte mich, ob ich es jemandem gezeigt hätte. Ich log, indem ich verneinte. Nachdem sie mir 3 mal versicherte, ich könnte es der Mami ruhig erzählen, gab ich zu, es einer Schulfreundin gezeigt zu haben.
Darauf hin ließ sie 10 Stunden in der Küche mit einem Kochlöffel wie von Sinnen hinter mir her und wiederholte stets, „Du hast der Christine Dein Zeugnis gezeigt.“ Dieses Dilemma endete erst 2 Tage später. Ereignisse in dieser Form kamen oft in den ersten 12 Lebensjahren vor, was dazu führte, daß ich unter ständiger Anspannung stand und eigentlich die ganze Kindheit über Angst hatte. Ich habe die Zustände meiner Mutter unterteilt in „gewöhnlich erregbar, bis brutal einschüchternd“, der letzte Zustand brachte mich in Panik. Zuzüglich kam die schwere Demütigung der Kinder, von denen ich mich ein Leben lang nicht mehr erholen werde, sowie ihr Ehemann, von dem ich 16 Jahre dachte, er wäre mein Vater. Er wußte, daß ich nicht sein Kind war, auch wenn er es von meiner Mutter nie so gesagt bekam. Die ersten 5 Jahre waren gut mit ihm, da hat er mich noch mit Liebe behandelt, danach kam mir nur noch blanker Hass entgegen. Um nicht weiter auszuschweifen, können Sie meine Kindheit vergleichen mit der der Christina in dem Film „Mommie Dearest“, (Meine liebe Rabenmutter). Auch sie machte mich mal nachts wach mit dem gleichen Verhalten von Faye Dunaway als Joan Crawford. Es war furchtbar.
Heute ist sie extrem sanft, was wie ich denke krankheitsbedingt ist. Sie paßt sich ihrer Umgebung an und da ich mich sehr konsequent aus ihrem Regime befreit habe, hat sich ihr Verhalten geändert. Eher unbewußt, denn sie ist realitätsflüchtig. Konfrontieren kann man sie nicht, sie denkt ich hätte eine perfekte Kindheit gehabt und ich glaube, daß denkt sie wirklich.
Damit habe ich auch gelernt zu leben. Die Illusionen aus der Kindheit und Jugend, sie würde sich einmal entschuldigen für diese Verhalten ist weg.
Nun aber zu meiner Problematik:
Sie hat meine ganze Kindheit geschafft, die Fassade unsere Familie sei intakt, zu erhalten. Und ihr ist es gelungen. Ich war immer das bekloppte Kind aus einer netten Familie. Ich vermute, die Leute waren eben zu oberflächlich zu hinterfragen. Vor einem Jahr hat sie die Mutter einer früheren Freundin wiedergetroffen und mit der unternimmt sie regelmäßig etwas. Auch sie ist der festen Überzeugung, daß ich eine gute Kindheit gehabt hätte.
Damit könnte ich vielleicht leben, aber ich habe eine Freundin aus Kindertagen, die mich damals auch sehr verletzt hat. Ich habe mehrmals versucht, sie mit meiner Kindheit zu konfrontieren, aber vergeblich. Die Tatsache, daß der Ehemann meiner Mutter nicht mein Vater ist, weiß sie nicht. Als ich es Ihr erzählen wollte, blockte sie ab, und sagte, daß was ich ihr über meine Mutter erzählen will, will sie nicht hören. Sie scheint mir sehr oberflächlich. Ich habe es geschafft, mich soweit zu suggerieren, daß ich damit leben konnte, indem ich dachte, naja sie weiß, wie meine Kindheit abgelaufen ist, ist aber zu oberflächlich, um sich damit zu beschäftigen. Mit dieser Denkungsweise konnte ich leben. Nur neulich hörte sie dann ein Schicksal von einem Mädchen aus dem Bekanntenkreis, bei dem sich der Vater das Leben genommen hat und die Mutter mit Schizophrenie in der Psychiatrie ist und sie als Kind einer Hure bezeichnet hätte. Daraufhin sagte sie dann, wie heftig das wäre und wie lächerlich unsere Probleme dagegen wären, wenn sie nur darüber nachdenken würde, wie gut wir es als Kinder dagegen gehabt hätten, da könnten wir ja richtig froh sein. Jetzt ist sie gerade in einer Phase, wo sie mit Nostalgie unserer Kindheit gedenkt, und mich sehr häufig fragt, „Weißt Du noch als wir, dies und jenes gemacht haben?“ Und ich merke an solchen Äußerungen immer, sie hat gar nichts verstanden. Sie als einzige Zeitzeugin denkt, wie gut ich es gehabt hätte. Es ist keine Oberflächlichkeit, sie denkt es wirklich. Und bei ihr verletzt es mich, denn sie ist die einzige Zeitzeugin. (mehr habe ich nicht, bis auf die eben genannte Bekannte von meiner Mutter und die denkt das auch. Meine Mutter hat zu allen Verwandten den Kontakt abgebrochen, damit die keinen Einblick hinter die Fassade bekamen, den auch bei denen hatte sie eine andere Identität.)
Nun meine Frage, wie lerne ich damit zu leben, daß die einzige Zeitzeugin trotz Versuche der Konfrontation denkt, alles wäre bei mir so gut gelaufen wie bei ihr. Mich nicht richtig kennt und mich auch nicht kennenlernen möchte. Gibt es eine Möglichkeit, damit leben zu lernen, ohne eine erneute Konfrontation? Ich wäre ihnen sehr sehr dankbar über eine Antwort, denn neben den zahlreichen Persönlichkeitsdefiziten bildet dieses Problem einen Grundbaustein.
Ich hoffe, daß ich Ihnen mit dem Lesen dieser Email nicht zu viel zugemutet habe und hoffe auf Ihre Rückmeldung. Gern bezahle ich Ihnen diese auch.
Mit vielen Grüßen, C. A.
AM: Sie hatten eine ganz schreckliche Kindheit. Es tut sehr weh, dass niemand Ihnen das bestätigen konnte und dass Sie diesbezüglich ständig belogen wurden. Aber nun kamen Sie auf die Idee, hierher zu schreiben, und mit unserer Veröffentlichung werden Sie viele einfühlende Zeugen bekommen, die sich über das Verhalten Ihrer gestörten Mutter empören werden. Mit diesem Brief an uns haben Sie sich entschlossen, selber Ihr wissender Zeuge zu werden, und das ist das beste, das Sie tun konnten. Sie schildern Ihre Kindheit sehr klar und deutlich, doch Ihr Zorn und Ihre Bitterkeit über so viel Brutalität, Machtgier, Dummheit scheinen noch blockiert zu sein. Das ist kein Wunder; Sie mussten diese starken Emotionen so lange unterdrücken, weil niemand da war, der Ihre Lage im Gefängnis einer schwer gestörten Mutter gesehen hat. Jetzt sehen Sie sie, und ich hoffe, dass Ihre Therapeutin Ihnen helfen kann, die starken Emotionen, die Sie früher nicht zulassen durften, nun endlich leben zu können. Lesen Sie die Revolte GANZ, das Buch ist für Menschen mit ähnlichen Schicksalen wie das Ihrige geschrieben. Sie haben die Gabe, sich klar auszudrücken, lassen Sie sich diese nicht nehmen; lassen Sie sich nicht mehr verwirren. Es grenzt fast an ein Wunder, dass Sie das Lügengebäude Ihrer Mutter durchschaut haben, denn nur dank Ihrem Mut, Ihre Wahrheit zu sehen, werden Sie sich helfen können. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Klarheit.