Der unsichtbare Mangel

Der unsichtbare Mangel
Thursday 23 November 2006

Sehr geehrte Frau Miller,
ich habe mit Heisshunger im letzten Jahr die meissten Ihrer Buecher verschlungen und wollte mich nun endlich mal bei Ihnen dafuer bedanken, dass sie geschrieben wurden.
Leider bin ich erst mit Anfang 50 darauf gestossen, sonst waeren mir vielleicht einige quaelende Jahre des Unverstaendnisses ueber meine eigene Lage erspart geblieben. Aber, immerhin, jetzt machen sich einige Tueren auf und erlauben mir Einblick auf lange verborgene Zusammenhaenge. Das Gefuehl, so wie ich bin, falsch und minderwertig zu sein, hat mich ein Leben lang begleitet, und das, obwohl mir von aussen immer das Gegenteil bezeugt wurde. Erst jetzt, nach der Lektuere Ihrer Buecher, glaube ich endlich zu verstehen, warum das so ist.
Ich bin als Kind zwar nie geschlagen worden und laute Agressionen waren strengstens verpoent, aber die Lebenskraft in mir wurde dennoch durch viele stille und unausgesprochene Gesetze gebrochen. Ich bin im Wohlstand der Wirtschaftswunder-Zeit gross geworden und hatte Eltern, die sich sehr bemuehten liebevoll zu sein. Alle „negativen“ Gefuehle galten als boese und waren unverzeihlich – und das war von ihnen durchaus gut gemeint. Aber dadurch wurde der „Mangel“ nur noch tiefer verschleiert.
Mein Vater war zwar Soldat im Krieg, sprach darueber aber nie, sondern bemuehte sich ein respektabler Mann zu sein. Von mir verlangte er unbedingten Gehorsam, wo er doch auch immer alle Rechnungen begleichen wuerde, stehe ihm das zu, sagte er. Und er konnte ueberhaupt nicht verstehen, dass er dafuer von mir nicht geliebt wurde. Jeder, der nicht seiner Meinung war, wurde schonungs- und gnadenlos verurteilt, dabei ist er aber niemals handgreiflich oder laut geworden – es war ihm also nichts vorzuwerfen! Am Ende ist er dann allerdings an seiner eigenen inneren Unerbittlichkeit verzweifelt und musste sich selbst das Leben nehmen.
Wenn ich mit meinem Leben nicht ins Reine kam, fragte er immer, was mir denn eigentlich fehlen wuerde, wo ich doch offensichtlich alles hatte, was seiner Meinung nach als erstrebenswert galt.
Sehr geehrte Frau Miller, erst durch die Lektuere ihrer Buecher ist mir klar geworden, wieso ich als Kind immer ungluecklich war, und auch wieso ich es mir und anderen wirklich nicht erklaeren konnte, was mir eigentlich fehlte – weil es ein Mangel war, den man nicht benennen kann, wenn man nichts anderes kennt. Wie soll man beschreiben, was einem fehlt, wenn man es nie gesehen hat? Dass es mir inzwischen gelingt, dies als einen realen Mangel zu sehen und nicht als hysterische Anwandlung, habe ich ihnen zu verdanken. Es gelingt mir auch zum ersten mal ein wages Verstaendnis dafuer zu empfinden, woher die ganze Gewalt und das emotionale Leid unserer Welt kommt, und damit auch zu erkennen, dass es nicht ein unabdingbarer und unveraenderlicher Zustand ist, den es hinzunehmen gilt, sondern dass es durchaus Hoffnung auf Heilung fuer jeden Einzelnen und somit auch fuer diese unsere schoene Welt gibt.
Wenn es nach mir ginge, haetten Sie den Friedensnobelpreis verdient!
Ich sende Ihnen meine besten Wuensche und besten Dank fuer ihre mutige und ehrliche Beschreibung von Tatsachen. Zum ersten Mal gelingt es mir nun, diese auch bei mir selbst zu benennen.
In Dankbarkeit, H. B.

P.S. Ich schreibe aus dem Ausland und muss daher die Umlaute ausschreiben.

AM: Vielen Dank für Ihren Brief. Sie fragen mit Recht: „Wie soll man beschreiben, was einem fehlt, wenn man es nie gesehen hat?“
Es ist genau das, was die meisten Menschen nicht tun können; ihr Leiden wurde ihnen sehr früh ausgeredet, und als Erwachsene haben sie keinen Zugang dazu. Das ist eine große Tragödie und die Wurzel von neuen Misshandlungen, denn Eltern, die nicht wissen, was ihnen in der Kindheit fehlte, können es ihren Kindern nicht geben; sie erwarten unbewusst, dass sie es von ihren Kindern bekommen: Aufmerksamkeit, Respekt, Zärtlichkeit und all das, was man als Liebe bezeichnet. Wenn sie es nicht bekommen, was sie ja für ihr Recht halten, werden viele gewalttätig und misshandeln ihre Kinder für diese Frustration.
Ich bin sehr froh, dass meine Bücher Ihnen helfen konnten zu verstehen, warum Sie als Kind unglücklich waren, und dass Sie dieses Kind jetzt entdecken können, um ihm Liebe zu geben, weil glücklich zu sein sein Geburtsrecht war.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet