Verleugnung
Tuesday 05 September 2006
Sehr geehrte Frau Miller,
gerade hab ich begonnen das buch “bonjour tristesse” von francoise sagan zu lesen. ich habe schon sehr lange kein buch gelesen, das nicht von Ihnen war. jetzt da ich bin beginne dieses buch zu lesen, merke ich wie ich auch in büchern, die verdrängung der leiden als kind erkenne, so wie Sie es sooft beschrieben haben. ich habe erst die ersten paar seiten gelesen und frage mich die ganze zeit ob das wirklich ernst gemeint ist und ob im laufe des buches dann doch der umbruch kommt, das erkennen, des leidens. (ich kann gar nicht fassen, daß das wirklich dort steht) das weiß ich aber eben noch nicht weil ich erst ganz am anfang bin.
ich zitiere einige passagen:
die tochter cecile schreibt
“….wie hätte ich, als ich zwei jahre zuvor aus dem pensionat gekommen war, nicht verstehen sollen, daß er (der vater) mit einer frau zusammenlebte? daß er diese frau alle sechs monate wechselte, sah ich weniger schnell ein. aber sein charme, das neue, unbeschwerte leben, das ich führte, und meine veranlagung, halfen mir, auch das sehr bald zu verstehen…” (das drama des kindes, das es schafft sich auch wirklich allem anzupassen)
“es machte mir keine schwierigkeiten, ihn (den vater) von ganzem herzen zu lieben, denn er war gut, großzügig, fröhlich und voll zuneigung zu mir….zu beginn des sommers ging er in seinem zartgefühl sogar so weit, mich zu fragen, ob die gesellschaft von elsa, seiner damaligen geliebten, mir während der ferien nicht lästig sein würde..” (der kurze durchbruch der ignoranz des vaters wird als beweis des zartgefühls gesehen)
im krassen gegensatz zur angblichen liebe und zartheit:
vater zur tochter: “warum bist du so mager, meine teure? du schaust aus wie eine verwilderte katze. wie gerne hätte ich eine schöne, blonde, vollschlanke tocher mit sanften porzellanaugen und… ” keine akzeptanz, nur verbiegen wollen, nur ein spielzeug wollen.
und “…vor zwei jahren als ich aus dem pensionat zurückkam, dieses genierte lächeln, weil ich zöpfe und ein häßliches, fast schwarzes kleid trug;”
“ich schäme mich dieser leichten freuden auch heute noch nicht (sie ging mir ihrem vater einkaufen, fuhr in teuren autos usw..) und ich nenne sie im übrigen auch nur “leicht”, weil man mir gesagt hat, daß sie leicht seien. meine kümmernisse oder meine mystischen krisen würde ich viel eher bereuen und verleugnen” (das was ihr tatsäclich geholfen hätte, wird verdrängt, nämlich “die mystischen kümmernisse” die vielleicht depressionen waren(?)
“anne larsen war eine alte freundin meine armen mutter”
“bis spät in die nacht hinein sprachen wir über die liebe und ihre komplikationen, die in den augen meines vaters nur eingebildete waren. er weigerte sich systematisch, begriffe wie treue, ernst und verpflichtung gelten zu lassen. er erklärte mir, daß sie willkürlich und unfruchtbar seien. aus jedem anderen mund hätte mich das schockiert. aber ihn kannte ich; bei ihm schloß das weder zärtlichkeit noch hingabe aus” (wieso?? warum ausgerechnet bei ihm nicht??)
eine freundin des vaters, die anscheinend sehr viel auf anstand und “gutes benehmen” legt wird so beschrieben: “diese knappe und endgültige art ihrer formulierungen entzückte mich (!). es gibt formulierungen, die ein so erlesenes geistiges klima um mich schaffen, daß ich ihm erliege, selbst wenn ich das gesagte nicht ganz begrife. …..”zumindest bist du nicht nachträgerisch.” das konnte ich gar nicht sein, denn anne war nicht böswillig. das spüre ich. sie war viel zu gleichgültig, ihre kritik ohne spitze und viel zu vage um boshaft zu sein. dafür war sie um so wirkungsvoller”
im generellen wird ständig betont wie glücklich sie sei. doch ist alles voller wiedersprüche. verbogen und verleugnet.
ich könnte endlos weiterzitieren nach ca. 20 seiten.
liebe grüße
V
AM: Es ist gut, dass es Leser gibt, die wie Sie diesen Grad an Ignoranz durchschauen, aber es sind nur wenige. Die meisten feiern solche unbewussten Schriftsteller, wenn sie selber wie Sagan nicht zu fühlen wagen und “Literatur machen” stattdessen. Sie lachen über ihre Gefühle und wissen daher gar nicht, was ihnen geschieht.