Mein gerettetes Leben

Mein gerettetes Leben
Saturday 29 December 2007

Liebe Alice Miller,
ich hatte Ihnen bereits am 27.8. und 3.9.06 zwei Leserbriefe eingestellt und jetzt ist eine ganze Zeit vergangen, meine gefühlte Zeit. Ich bin Ihnen so dankbar für alle Bücher die sie geschrieben haben, für Menschen die fühlen WOLLEN. Ich konnte meinen Weg gehen, weil Ihre Worte mir Mut machten, ein fühlender Mensch zu werden, nach meiner schweren Krankheit, die ganz klar meine Kindheit wiederspiegelt. Ich, eine Frau, die spürte, ihr ist es nicht alleine passiert, sie muss sich nicht schämen, sie hat keine Schuld und ihre Gefühle bringen sie nicht um, nein Ihnen ist es auch passiert. Somit sind sie meine Begleiterin auf meinem Weg geworden. Danke.
Ich möchte Ihnen meinen gefühlten Weg bis heute in meiner Zeit gerne schildern:
Ich hatte Krebs und eine der Kontrollen ist immer die Kernspintomographie, ich nenne es Durchleuchtungsapparat. Meine Verbindung wird so deutlicher zu den Augen meiner Mutter, die dem kleinen Mädchen immer wieder sagte *schau mir in die Augen und ich sehe genau, was Du vor mir versteckst* Dieser Durchleuchtungsapparat ließ mich Jahrzehnte später diese Angst fühlen, sie könnte das Versteckte finden und mich dafür töten. Dieses Mal ging ich das erste Mal mit meinem Gefühl *ich bin Gesund* zur Untersuchung und genau diese Bestätigung bekam ich auch. Meine Wahrnehmung stimmte, ich kann mir vertrauen. Noch brauche ich diese Spieglung, aber sie wird bald nicht mehr nötig sein.
Nun aber die Frage, wie ist für mich der Krebs entstanden?
Liebe Alice Miller, ja, sie haben absolut Recht, wenn nicht anders möglich, quält sich dieses kleine Mädchen mit ihrer Krankheit hoch. Ich habe sie gefühlt, mit einer unendlichen Traurigkeit, meine Tränen laufen noch immer, und ich fühle, was diese Kleine schmerzhaft alles AUSHALTEN musste um zu überleben, das Recht auf LEBEN gab ihr niemand. Alles aushalten war die größte Stärke als Kind, sie war auch ein starkes, protestierendes, wütendes Mädchen mit einem glasklaren Blick, bis ihre Mutter es ihr verbot sich zu wehren und ihren Blick vernebelte. ( sie brauchte dann eine Brille) Und als Frau war *aushalten* ihre Falle… Sie suchte sich Stellvertreter Ihrer Eltern, um diese zu retten, alles, wirklich alles zu tun, so wie sie damals ihre Mutter glücklich machen musste, sie retten musste… Ja und so krebste sie nun rum…
Der Körper holt sich seine Wahrheit. Ja, genau so ist es… Mir wurde der Hals aufgeschnitten, vom linken bis zum rechten Ohr, in den Zungengrund wurde reingeschnitten, so dass ich meine Zunge nicht mehr weit rausstrecken kann. Warum? Als kleines Mädchen durfte mir bei meiner Mutter nicht der *Kragen platzen*, dann kam der Liebesentzug und mit ihm meine Todesängste, ich bin ins Leere gelaufen, ich musste bitten und betteln solange, bis meine Mami wieder gut war… Eine Hölle für mich, mein Leben war bedroht, wenn ich es nicht schaffe dass alles wieder gut wird, muss ich sterben… Brauchte ich den Chirurgen, der meinen Hals öffnete, damit der Druck (meine Wut) raus kann? Zu meiner Zunge: ich habe mich gesehen und gefühlt, als ich mit ca 9 Monaten in meinem Gitterbettchen meine Mutter anlächelte und neckisch meine Zunge rausstreckte… Ich sehe die kalten Augen meiner Mutter, wie Dolche, und ihre Hand schlug mehrmals brutal auf meinen Mund, bis meine Zunge drin blieb. Heute kann ich sie nicht mehr rausstrecken. Es war meine Mutter, die mir das angetan hat und es ist unglaublich, um mir das Bild einer liebenden Mutter zu erhalten, musste ich alles verdrängen, nur das nicht fühlen, was mir angetan wurde.
Dann kam die Chemotherapie, die Bestrahlung des Mundraumes. Jeden Tag 2 Wochen lang 8 Stunden Chemo, ich kann gar nicht beschreiben wie ich mich gefühlt habe diese höllische Angst, diese Todesangst, wenn dieses Gift durch meinen Körper floss, diese Negativ Mutter, die mich so vergiftete, früher, es mir dosiert so schlecht gehen ließ… Nur meine Hülle blieb über und selbst mit dieser musste ich noch lieb sein um IHR Leben zu retten. Ja es war zum Kotzen und genau das machte mein Körper, ich musste spucken ohne Ende und verlor in 14 Tagen 14 Kilo und lag am Boden. Die Bestrahlung kam dann oben drauf. Meine Zunge und mein Mundraum wurden verbrannt, mein Geschmack, mein Hunger alles wurde mir genommen. Und warum? Ich wachte eines Nachts auf und fühlte und sah es nur schemenhaft, meine genervte Mami, die mir die Flasche gab und mir meinen Mund verbrannte und mich schlug, als ich wie am Spieß schrie.. Heute ist mir klar, dass ich mit meinem Rauchen immer wieder dieses Gefühl der Verbrennungen auf der Zunge hergestellt habe, um genau das zu fühlen und aufzulösen…
Ich empfinde meine Kindheit immer noch als schmerzhaft, ich weine und kann fühlen, wie ich betrogen wurde. Ich fühle mittlerweile auch, wie sehr mein Vater mich an meine Mutter ausgeliefert hatte. Ich hatte niemanden, ich war total allein. Mein Vater hat sich bei meiner Mutter, die ihn nicht wollte, angedienert, um etwas Zuwendung zu bekommen. Er hat gearbeitet, den ganzen Haushalt gemacht… Sie war die Frau, die auf Händen getragen wurde, deren selbsternannte Aufgabe es war sich ausschließlich sich um mich zu kümmern, damit aus mir etwas Anständiges wird. So wurde mir diese Mogelpackung verkauft. Ich hatte keinen Freiraum für mich, ständig von morgens an bis ich ins Bett musste, in IHRER Bett, zwischen IHNEN, als Schutzschild meiner Mutter gegen meinen Vater. Welch ein Wahnsinn, den Vater im Rücken und das kleine Mädchen erwachte nachts und verstand die Welt nicht mehr, als sie das erigierte Glied ihres Vaters im Rücken spürte… Sie konnte es nicht zuordnen und sie hatte niemanden dem sie es hätte sagen können, denn ihre Mutter behauptete immer *dein Vater könnte mit Dir nicht verheiratet sein* Was soll das denn? Es verwirrt mich immer noch.
Ich hatte nie das Recht auf ein eigenes Zimmer, für mich war kein Platz, auf eigene Wünsche, die ich entwickeln durfte. Ich musste immer mein Augenmerk auf die Eltern richten, sie bemuttern und bevatern… Niemand war für sie da. Und als sie ihren ersten Freund hatte, schlug der Vater erbarmungslos auf sie ein bis sie am Boden lag und dann trat er mit seinen Füßen zu… lange, lange Zeit. Erst mit 23 Jahren hatte ich den Mut zu sagen * wenn Du mich noch einmal anfaßt, zeige ich Dich an*
Bis zu meinem 3. Lebensjahr hatte meine Mutter mich geschlagen. sie stellte jedoch fest, sie könnte mich totschlagen, sie bekommt nicht von mir was sie will. Und so wandte sie den Liebesentzug an und machte mir vehement Angst. Todesangst. Und diese Angst macht mir noch immer etwas zu schaffen, Angst alleine zu sein, vor der Stille, der Macht, der Wut… Es ist immer noch negativ besetzt, ich stehe aber schon in den Startlöchern, die dahinterliegenden Gefühle zu fühlen…
Heute, im nachhinein kann ich fühlen, wann der Krebs angefangen ist. So ungefähr vor 5 Jahren. Ich fühlte mich von meinem Freund trennen zu müssen weil es mir mit ihm nicht gut ging, nur ich fühlte mich immer schuldig. Ich weinte bitterlich, weil ich mich nicht geliebt fühlte, ich habe gebittet und gebettelt, wie früher, um etwas Liebe… Er schickte mich weg, ich solle ihn nicht nerven, er ließ mich ins Leere laufen und ich ging, wie ein räudiger, geschundener Hund. Alles schrie damals in mir * wenn er mich doch schlagen würde, dann wäre wenigstens etwas* Meine Kopfentscheidung war, dass ich mich trennte, und er kam zurück und so nahm meine Krankheit ihren Lauf… Mein Körper signalisierte *hör auf zu Rauchen* aber ich galoppierte über meine Gefühle hinweg mit dem Argument * dann klappt es nicht mehr mit meiner Verdauung*, wie einst meine Mutter, Du musst Rizinusöl nehmen, sonst stirbst Du. Kindlich naiv habe ich ihr geglaubt und es hätte mich HEUTE fast mein Leben gekostet.
Mittlerweile sehe ich schon mal die Frau, die ich bin, auch eine liebenswerte Frau, die Ecken und Kanten bekommt, die Ja und Nein sagen will, ihre Stimme anziehen will, wenn es um sie geht, keinen anderen mehr ändern oder retten will, sich an erste Stelle bringen will und sich verstehen will, statt vorrangig andere.
In ihrem Forum begegnete ich einem Mann, der mir Raum für meine Gefühle gegeben hat, mittlerweile vertraue ich ihm und er geht mit mir einen lebendigen Weg, meinen Weg in meiner Zeit, mein wissender Zeuge, und es erfüllt mich mit Wärme. Und ich bin der seine.
Mittlerweile empfinde ich Ärger und Empörung und manchmal kann ich schon protestieren, der zarte Anfang mich zu wehren beginnt… und meine Wut werde ich auch noch finden. Ich vertraue dem kleinen Mädchen. Wenn es ihre Zeit ist, kommt sie damit raus und ich bin an ihrer Seite, da kann sie sicher sein. Diese Kleine muss nie wieder lieb sein, sie ist auf dem Weg zu einer liebenden Frau. Sie kommt raus, aus ihrer Deckung und zeigt sich, immer mehr…
Danke für ihre Bücher. Sie sind eine ganz wichtige Frau in meinem Leben, eine Frau, die mir durch ihre Bücher Mut machte meine Gefühle zuzulassen und die mich berühren konnte. Durch Sie konnte ich mein Leben retten und jetzt lebe ich MEIN GERETTETES LEBEN.
Ich wünsche Ihnen alles Liebe und mögen Ihre Herzenswünsche in Erfüllung gehen.
D.N.

AM: Ich danke Ihnen vom ganzen Herzen für Ihren wunderbaren, mutigen, klaren und für andere wegweisenden Brief. Es grenzt an ein Wunder, dass Sie trotz der Barbarei Ihrer Mutter ein so mutiger Mensch werden konnten. Offenbar ist es Ihnen dank der empathischen Begleitung möglich gewesen, die Ursachen Ihrer Erkrankung zu erkennen, dies nicht zu verleugnen und so Ihr Leben zu retten. Dieses Wissenwollen ist bei Krebspatienten sehr selten anzutreffen, daher bin ich so erstaunt und so beglückt über Ihre Geschichte. Alles, was Sie schreiben, fügt sich in einen logischen Zusammenhang. Ich gratuliere Ihnen zu diesem Sieg über die Herzlosigkeit, Ignoranz und Lüge.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet