Alte Muster

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Sunday 28 September 2008

Liebe Frau Miller,

das Thema der „Schwarzen Pädagogik“ interessiert mich seit Jahren, ganz besonders seit ich Ihre Bücher gelesen habe. Um meinen Kindern einen freien und selbstbestimmten Zugang zum Lernen zu ermöglichen, habe ich eine Montessorischule für sie gefunden, die folgende Sätze zu ihren wichtigsten Richtlinien gewählt hat: „Lasst uns Zeit“ und „Hilf mir es selbst zu tun“.

Um nun die Kinder in der Entwicklung ihres Selbstbewusstseins voran zu bringen und um ihnen eine rasche Integration in die Gemeinschaft der Schule zu ermöglichen, haben sich die PädagogInnen dieser Schule Folgendes ausgedacht:

Etwa einen Monat nach Beginn des neuen Schuljahrs gibt es eine Landschulwoche, und es ist der ausdrückliche Wunsch aller Lehrer und Lehrerinnen, dass alle Kinder mitfahren. Also alle Kinder von 6 bis 14 Jahren, von der ersten bis zur achten Schulstufe. Es wird zwar eingeräumt, dass niemand zur Teilnahme gezwungen werden kann, aber auf den häufigen Einwand der Eltern von Neueinsteigern, die meist gerade erst 6 Jahre sind und noch nie die Erfahrung gemacht haben mit einer noch ziemlich fremden Gruppe von Kindern und Erwachsenen mehrere Tage und Nächte weit weg von ihrer vertrauten Umgebung zu verbringen, hört man von den Lehrern: „Die Kleineren haben viel weniger Probleme mit Heimweh als die Älteren. Du wirst auch sehen, dass dein Kind, nachdem es diese Woche geschafft hat, sich viel besser in der Schule zurechtfinden wird. Es wird selbstbewusster sein und einen guten Platz in der Gemeinschaft finden. Ohne diese Erfahrung würde es das möglicherweise das ganze Jahr lang nicht schaffen. Außerdem sind so viele spannende Angebote geplant, dass es zu schade wäre, wenn dein Kind das alles verpassen würde.“

All das konnte meine Bedenken noch lange nicht zerstreuen, obwohl meine beiden Söhne als Quereinsteiger „schon“ 8 und 9 Jahre alt waren. Die Montessori-Pädagoginnen meiner Kinder kamen nun zu dem Schluss, dass ich Schwierigkeiten habe, meine Kinder loszulassen und dagegen hilft am besten dem Kind klar mitzuteilen: „Ich will, dass du mitfährst!“ So fiele es dem Kind am leichtesten sich zu trennen. Wenn sich dann aber herausstellen würde, dass „es doch nicht geht“, wäre es noch immer möglich das Kind abzuholen. Es sei aber in fünf Jahren noch nie ein Kind abgeholt worden! Mein ältester Sohn fuhr mit, weil er und ich dachten, dass er es schaffen würde. Am zweiten Tag flehte er mich weinend am Telefon an, ihn abzuholen, ebenso am dritten Tag. Kommentar der Lehrerin am Telefon: “Bitte, bitte unterstütze uns! Er kann es schaffen! Hol ihn nicht ab!“

Nun war mir klar, wer entschied, ob „es doch nicht geht“. Das Weinen des Kindes war absolut nicht ausschlaggebend. Sie glauben, dass diese quälenden Gefühle der Kinder sich verflüchtigen, sobald sie zusammen in Unternehmungen und Spiel verwickelt sind. Dass die Kinder „es schaffen“, dass sie „durch die Erfahrung wachsen“, während sie von den Lehrern und Lehrerinnen liebevoll begleitet werden, begeistert diese ungemein.

Ich bin der Meinung, dass hier Kinder mit spannenden Angeboten in eine Falle gelockt werden, aus der es kein Entrinnen gibt. Wer keine Möglichkeit mehr hat, eine für ihn quälende Situation zu beenden, der muss sie ja irgendwie überleben. Das hat nichts mit „es selbst tun“ zu tun.

Am vorletzten Tag ging es meinem Sohn gut. Die Prophezeiung des steigenden Selbstbewusstseins schien sich zu erfüllen. Dennoch halte ich auch das nur für eine scheinbare Entwicklung, da die Kinder sicher merken, was sich die Pädagogen erhoffen, und dann entsprechend reagieren und kooperieren, nachdem Trauer und Schmerz einigermaßen abgeklungen sind.

Meine Kinder fahren heuer nicht auf diese Landschulwoche mit. Mein ältester Sohn will diese Erfahrung trotz des „glücklichen Ausgangs“ nicht wiederholen.

Wie beurteilen Sie diese Vorgangsweise, die gefühlsmäßige Situation der Kinder und die Entwicklung, die von den Pädagogen so gepriesen wird? Das würde mich brennend interessieren!

Vielen Dank und sehr freundliche Grüsse sendet Ihnen
MF

AM: Ich verstehe und teile Ihre Empörung. Sehr oft begegne ich dem Phänomen, dass Lehrer und Erzieher nach einer Methode arbeiten wollen, die Ihnen intellektuell einleuchtet, aber in der Praxis bringen sie Verhaltensweisen hinein, die sie selber als kleine Kinder von ihren Eltern gelernt haben, ohne dies jemals in Frage gestellt zu haben. Der Zwang in Ihrem Fall ist eindeutig grausam, aber diese Erzieher haben so früh gelernt, dass „was dich nicht umbringt, macht dich stark“, dass sie ihre eigene Grausamkeit nicht durchschauen können. Zumindest nicht ohne eine Therapie, die mit der Realität des Missbrauchs in der Kindheit arbeitet. Ich bin froh, dass Sie dafür sensibilisiert sind und so Ihre Kinder von solchen Erfahrungen beschützen können. Der beste Beweis, dass Ihre Bedenken Sie nicht täuschten, sind die Tatsachen, dass Ihr Sohn am Telefon geweint hat und dass er diese Erfahrung nicht wiederholen will. Auch das Versprechen von vielen Programmen (Ablenkungen von den wahren Gefühlen) gehört zu der schwarzen Pädagogik.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet