Psychotherapieschäden

Psychotherapieschäden
Monday 07 January 2008

Sehr geehrte Frau Miller,
ich möchte Ihnen zunächst meine ausdrückliche Anerkennung und Bewunderung aussprechen für Ihr Engagement, das Sie in Ihren Büchern und auch auf Ihrer Web-Seite zeigen für das Wohl von Menschen, die unter anderen gelitten haben! Es ist beeindruckend, wie die Leserbriefe an Sie immer wieder unschlagbar belegen, dass ein Ansatz wie der Ihre, in dem die Entstehung psychischer und psychosomatischer Beschwerden aus meist kindlichen Traumata heraus verstanden wird, immer wieder ins Schwarze trifft, wenn das entsprechende Verständnis oft überraschend schnell zur Lösung und Heilung führt.
Leider ist ein wirkliches Verständnis selbst bei den Betroffenen manchmal durch bloße Aufklärung allein nicht herzustellen. Das bringt mich manchnmal geradezu aus der Fassung, wenn ich so etwas als Außenstehender mitbekomme, dass die alten Peiniger immer wieder geschützt werden. So schreiben auch Sie am 03.12.2007 in einer Antwort auf einen Brief: AM: Ich habe Ihren Brief überhaupt nicht verstanden: Sie schreiben: „ich habe vor einem Jahr eine Psychoanalyse beendet und fühle mich in der Abschiedsphase allein gelassen…und retraumatisiert. Verwirrt und belastet. Das Ende der Therapie war für mich extrem bedrohlich. Ich hatte Panikattacken und es kamen körperliche Symptome hinzu (Thrombose).“ Und dann: „Sie hat sich in Schweigen gehüllt …und auch in der letzten Stunde, … Es war eiskalt.“ Und etwas weiter teilen Sie uns mit, dass Sie diese Analytikerin später zu sich in Ihr neuerbautes Haus eingeladen haben, „damit durch Ihre Anwesenheit eine gute Energie in dieses Haus käme“. Das ist in meinen Augen absolut unverständlich und inkoherent.“
Ich teile vollkommen Ihre Position. Und dann fragen Sie weiter: „Können Sie mir helfen zu verstehen, weshalb Sie von einer Frau, die Sie als so negativ beschreiben, positive Energien erwarten!!??? Haben Sie in Ihrer Analyse gelernt, dass man viel Unangenehmes einstecken muss und dies als hifreich bezeichnen soll?“

Was da berichtet wird über eine offensichtlich völlig missratene Psychotherapie, ist mir vertraut aus diversen Schilderungen von Betroffenen, zuletzt gestern geschehen: Da wird über Jahre ein Kontakt ertragen, der an Eiseskälte nicht mehr zu überbieten ist, der verbunden sein kann mit den ekligsten Entwertungen („Schauen Sie sich doch mal an, wie beschissen Sie aussehen! Meinen Sie, ein Mann hatte je wirkliches Interessen an Ihnen?“), der in den unmöglichsten Opferbeschuldigungen ausartet (Beschuldigung, die Klientin sei am Suizid der Mutter schuldig – sie ist damals keine 4 Jahre alt), und nachdem ein solcher Kontakt schließlich irgendwann (zum Glück!) abgerissen ist, da wird von der Betroffenen immer noch „eine starke Bindung“ zu ihrem früheren Peinigern erlebt. Die Beendigung der Psychotherapie wird von solchen Betroffenen oft als schmerzhaft und tragisch erlebt, manchmal wird sogar eine weitere Fortsetzung der abgebrochenen Psychotherapie mehr oder weniger ausdrücklich gewünscht.
Sicherlich werden Sie auch in diesem Muster genau das gespiegelt sehen, was Sie ja oft genug analysiert haben: Dass Kinder z.B. ihre eigenen Eltern immer wieder in Schutz nehmen, anstatt sich ihre Wut und ihren Zorn auf deren Peinigungen einzugestehen und unnmissverständlich zum Ausdruck zu bringen.
Sie bitten in Ihrer Antwort um Verständnishilfe. Das mag einerseits eine rhetorische Formulierung sein, um die Briefschreiberin zum eigenen Nachdenken und zu mehr kritischem Bewusstsein anzuregen. Es bringt aber sicherlich auch Ihr reales Unverständnis – das ich, wie gesagt, einrseits zu 100 % teile – zum Ausdruck.
Und gleichzeitig wäre mir hier noch an einer Ergänzung gelegen: Bei diesem (vermeintlich) „ver-rückten“ Verhalten, das nicht untypisch ist für Menschen, die eine Therapie durchgehalten haben, obwohl sie dort schlechte Erfahrungen gemacht haben, muss ich an das sog. „Stockholm-Syndrom“, denken: In Stockholm hatten zwei Bankräuber mehrere Tage lang einige Bankangestellte in ihrer Gewalt, die sie auch recht brutal behandelt hatten. Nach ihrer Befreiung zeigten die Geiseln deutliche Sympathien für die Geiselnehmer; eine der Geiseln soll sich sogar nach der Befreiung mit einem zu diesem Zeitpunkt inhaftierten Täter verlobt haben. Die Erklärung für dieses Verhalten: Ist man in einer Situation, in der man für das eigene (physische und/oder psychische) Überleben sehr stark auf andere angewiesen ist, gehört es quasi zu einem Überlebensreflex, sich möglichst stark an denjenigen anzupassen, der die Situation beherrscht. Dieses Phänomen hat man wiederholt bei Opfern von Geiselnahmen oder bei Folteropfern erlebt. Es ist, finde ich, vergleichbar mit dem Verhalten von Menschen, die als Kinder massiv misshandelt worden sind und auch als Erwachsene noch sehr stark an ihre Eltern gebunden sind. Oder bei Frauen, die in ihrer Beziehung sehr schlecht behandelt, geschlagen worden sind – und von ihrem Partner nicht loskommen. (Ähnlich gibt es das umgekehrt bei Männern, die von Frauen schlecht behandelt werden und sich nicht lösen können; es fällt dort nur oft nicht so auf.)
Ich denke, etwas sehr Ähnliches passiert in schlechten Therapien: Durch das schlechte psychische Befinden sind die Hilfesuchenden zuerst sehr verunsichert, sicherlich voller Hoffnung, diese Hilfe in einer intensiven Behandlung zu bekommen. Sicherlich werden sie zum Teil zu Beginn auch einigermaßen freundlich behandelt. Aber für Therapeut/Therapeutin kann es offenbar große Befriedigung bedeuten, die Betroffenen ihre Macht spüren zu lassen. So mag sich zunehmend ein entwertendes und verletzendes Verhalten entwickeln. Es ist mir durchaus verständlich, dass die Betroffenen dann – um solche Verletzungen zu vermeiden – eine Tendenz entwickeln, sich stark an den Therapeuten/Therapeutinnen zu orientieren. Auch dann, wenn sie immer mehr ihr wahres Gesicht zeigen. Und wenn man schon nach einigen Tagen Geiselhaft so eine (kurzfristig absolut sinnvolle, langfristig eindeutig ungesunde) Anpassung entwickelt, um wieviel eher wird sich das nach einer monate- oder jahrelangen Therapieerfahrung einstellen?
Es ist für das Gehirn offenbar schwer, sich von solchen (kurzfristig sinnvollen) Schutzmechanismen wieder zu verabschieden. Eine Herausforderung für die Psychotherapie, diese Muster weiter zu untersuchen und Methoden zu entwickeln, um bei der Ablösung von diesen Abhängigkeiten mitzuhelfen! Und weiter darüber aufzuklären, dass diese Mechanismen existieren, dass sie sich darin spiegeln, wie Kinder ihre misshandelnden Eltern, Geiseln ihre Entführer, Folteropfer ihre Peiniger schützen können – obwohl sie faktisch längst dem Einzugsbereich dieser Menschen entzogen sind. Mit Ihrer Web-Seite, auf der Sie viel außerordentlich wichtiges Material gesammelt und verdichtet haben, das über dieses Phänomen Auskunft gibt, und mit Ihren Büchern tragen Sie zu dieser Aufklärung ganz außerordentlich bei! Dafür sage ich Ihnen noch einmal: Ganz herzlichen Dank!
Herzliche Grüße, Klaus Schlagmann

Diplom Psychologe/Psychotherapeut
Klaus Schlagmann
http://www.oedipus-online.de

AM: Vielen Dank für Ihren Brief und die klare Beschreibung des Stockholm-Syndroms. Ich schreibe ja immer wieder, dass die Menschen, die als Kinder am meisten geschlagen, ja gefoltert wurden, an ihre Eltern später hoffnungslos gebunden sind und sich daher kaum lösen können. Aber was geschieht durch diese Bindung? In seinem faszinierenden Buch über Serienmörder von Jonathan Pincus „Why Killers Kill?“ beschreibt der Autor die schrecklichen Perversionen, denen die von ihm untersuchten Verbrecher in der Kindheit ausgesetzt worden waren, aber in den Gesprächen mit dem Psychiater sagten die meisten, sie hätten die besten Eltern. (Siehe dazu den Artikel ”Frenzy” von Thomas Gruner auf dieser Webseite)
Die von Ihnen erwähnte Frau, die ihre kalte Analytikerin eingeladen hatte, um „positive Energien“ im neuen Haus zu haben, hat meine Frage „warum“ gar nicht beantwortet. Im Google hat es sich herausgestellt, dass sie selber Therapeutin ist und viel schreibt. Offenbar ist sie immer noch ahnungslos, weil sie ihre eigene Kindheit nicht durchschaut hat. So funktionieren viele Therapien, genau wie Sie das beschreiben. Ich bin froh, dass Sie nicht länger versuchen, den Analytikern etwas beizubringen, denn solange Sie es tun, glauben Sie doch, dass man die „Eltern“ noch verändern kann. Die schwer misshandelten Kinder können sich nicht lösen, weil sie immer noch warten, die Eltern würden sich eines Tages ändern, diesen Moment wollen sie nicht verpassen. Das Kind konnte doch nicht glauben, dass die Eltern so gemein oder so dumm oder beides sein können.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet