Man kann niemanden zur Offenheit zwingen

Man kann niemanden zur Offenheit zwingen
Sunday 02 October 2005

Sehr geehrte Frau Miller!

„Ich kann mir keinen Zustand denken, der mir
unerträglicher und schauerlicher wäre, als bei
lebendiger und schmerzerfüllter Seele der Fähigkeit
beraubt zu sein, ihr Ausdruck zu verleihen“ steht als
Zitat von Montaigne auf der Rückseite Ihres Buches „Am
Anfang war Erziehung“. Es beschreibt wohl am ehesten
den momentanen Zustand meines Freundes (42), den ich
von ganzem Herzen liebe.
Nach nun 8 Monaten Beziehung brach er vor 4 Wochen
abrupt mit der Bemerkung „der Druck“ wird mir zu groß
ab! Es ist leider kein Gespräch mehr möglich. Bei
direkter Ansprache, wenn wir uns zufällig treffen, hat
er Angst, verändert seine Sprache, bekommt
Schweißausbrüche und kann mich nicht anschauen. Und
böse kann er sein, so daß er mir unterstellt, aggresiv
zu sein und er sich bedroht fühlt. Alles was auch nur
nach geringster Kritik klingt, muß er mit massivsten
Vorwürfen niederwalzen.
Nach dem Lesen einiger Ihrer Bücher kann ich sein
Verhalten sehr gut Verstehen und folgend seiner
Kindheit ist es auch passend.
Fast jeder, der Ihn kennt und Andere, die auf meine
Erzählungen schlußfolgern, raten mir, Ihn loszulassen
und die Sache als beendet zu sehen.
Einige wenige sagen, ich solle auf mein Herz hören und
tun, was die Liebe tun würde. Die sagt mir jedoch,
„gib Ihn nicht auf“. Und glauben Sie mir, ich habe in
sein riesengroßes Herz gesehen und kann mich gut an
direkte und indirekte Hilfeschreie erinnern, die
sagten: „Laß mich nicht alleine“, „Endlich habe ich
gefunden, wonach ich so lange gesucht habe“.
Er hat mir jetzt nicht gesagt, daß er mich nicht mehr
liebt. Er will Abstand, möchte diese Beziehung nicht
mehr und er hält den Druck nicht aus, sind seine
Aussagen. Seine bisherigen zwei Beziehungen und einige
sehr gute Freundschaften haben auf die genau gleiche
Art geendet. Und er hat oft bedauert, daß die Freunde
und Partner sich sehr schnell mit der Trennung
abgefunden haben.
Aus Ihren Büchern konnte ich sehr gut die Ursachen
seiner/dieser Problematik erkennen und verstehen.
Leider habe ich keinen Hinweis auf den Umgang mit
Menschen entdeckt, die solches Leid hinter sich haben.
Ich liebe diesen Mann und ich will Ihn nicht
verlieren.
Wenn es keine Möglichkeit auf Beziehung gibt, muß und
werde ich seine Entscheidung respektieren. Doch ich
will den Glauben nicht aufgeben, daß es eine
Alternative zu vollkommener Trennung gibt. Ich möchte
die Verbindung zu ihm halten können.
Wie kann ich mich ihm gegenüber verhalten, um ihn
nicht weiter unter Druck zu setzen ihm aber die
Möglichkeit zu geben, die Verbindung nicht abbrechen
zu müssen?

Mit einer großen Hoffnung auf einen kleinen Wink,
JR

A.M.: Sie zitieren die Worte Ihres ehemaligen Freundes: „Ich möchte diese Beziehung nicht mehr, halte diesen Druck nicht aus“. So bleibt Ihnen ja nichts anderes übrig, als seinen Willen zu respektieren und ihren Freund nicht zu bedrängen, zumal Sie ihn überaus lieben.
Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich mich allerdings fragen, warum ich ausgerechnet einen Menschen lieben muss, der mich ablehnt, dem meine Liebe lästig ist und der mich in eine solche Verzweiflung treibt? Warum liebe ich jemanden, der mich so leiden lässt, nicht offen mit mir ist und den ich deshalb nicht mehr verstehen kann? Wie hängt das wohl mit meiner Kindheit zusammen? Vermutlich ist Ihnen diese Frage schon aufgetaucht, sonst hätten Sie nicht gerade mir geschrieben, da Sie ja wissen, dass ich mich mit den Folgen der traumatischen Kindheiten befasse.
Ich denke, dass wir nur uns selber verstehen können und den anderen, sofern er das wünscht und uns an seinen Gefühlen teilnehmen lässt. Wenn er uns das aber grundsätzlich verweigert und sich total verschließt, wenn er die einzelnen Gründe seiner plötzlichen Ablehnung nicht deutlich nennen will, sind alle Versuche sinnlos, außer man hätte daran Spaß, die Wände hochzukriechen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet