Wie findet man die Erinnerungen?

Wie findet man die Erinnerungen?
Saturday 09 May 2009

Liebe Frau Miller,

vor 2 Tagen habe ich von einer Freundin das Buch “Das Drama des begabten Kindes” bekommen und direkt verschlungen.

Ich muss dazu sagen, dass ich im vorletzten Jahr eine Kurzzeittherapie gemacht habe, nachdem ich jahrelang von Arzt zu Arzt lief, weil ich körperlich krank war – die zusätzliche Depression wollte ich mir nicht eingestehen. Ich kam zu einer Verhaltenstherapeutin, bei der ich lernte, mit problematischen Situationen und Konflikten umzugehen.

Wie in Ihrem Buch beschrieben, passte ich mich schnell den Forderungen der Therapeutin an, mich anzustrengen und autonom zu werden, was mich stolz gemacht hat.

Die Therapie bezog sich hauptsächlich auf mein gegenwärtiges Verhalten und wie ich es positiv beeinflussen kann. Man kam aber nicht umher, gelegentlich auf meine Kindheit einzugehen. Erst hier wurde mir klar, dass meine Kindheit gar nicht so normal und gut war, wie ich es immer gemeint hatte und ich erkannte Verhaltenszusammenhänge, die mir bis dato genauso wenig bewusst waren.

Nachdem ich vor genau einem Jahr meine Therapie beendet hatte, war ich der Meinung, gut genug zu sein, dass meine Umgebung wieder zufrieden mit mir ist. Doch dann musste ich langsam feststellen, dass ich mit meiner Umgebung nicht zufrieden bin und sehr viel ändern musste.

Ich baute schwerlich so viel Mut wie möglich auf und ging durch einen grauenvollen Scheidungsprozeß mit einem Mann, für den ich immer die Mutter hab spielen müssen, während er mich unterschwellig demütigte.
Meine Eltern hielten nicht zu mir – für sie brachte ich eine Schande über ihr Idealkonzept einer guten Familie, welches nur nach außen gut ausschaut. Weil ich keine Kraft hatte, mich auch gegen sie zu behaupten, brach ich den Kontakt bis ich wieder auf eigenen Beinen stand.

Nun hab ich es geschafft und bin auch sehr glücklich darüber. Es tat und tut gut zu hören, wie viel Mut und Stärke ich hatte, diesen schwierigen Weg zu gehen.

Doch ich fühle mich immer noch nicht “fertig”. Noch immer überkommen mich Versagensängste und Gefühle der Sinnlosigkeit.

Nachdem ich Ihr Buch nun gelesen habe, ist mir noch mehr über mich klar geworden. Ich konnte mich in vielen Ihrer Beschreibungen wiederfinden. Dieses Verlangen, stark sein zu müssen und zu beweisen und immer die Bestätigung suchend… gerade die Beziehung zur Mutter kann ich mir nun besser erklären.

Ich kann viele Verbindungen zu meiner Kindheit herstellen. Aber nun muss ich feststellen, dass sich große Lücken in meiner Erinnerung befinden. Zum Beispiel erinnere ich mich an meinen leiblichen Vater nur in 3 Szenen, die jeweils eine Minute füllen – dabei kannte ich ihn bis zu meinem 5. Lebensjahr (lernte ihn erst wieder mit 18 kennen).

Wie kann ich Kindheitserinnerungen wieder zurückholen? Wie gelingt das? Wie komme ich daran, ohne jetzt Ängste oder Vermutungen einfließen zu lassen, die die Erinnerung verfälschen?

Ich möchte unbedingt alles verstehen, damit ich den Kreislauf der “bedürftigen” Mutter durchbrechen kann.

Vielen Dank für Ihre Hilfe, die ich schon durch Ihr Buch erfahren durfte.

Mit besten Grüßen,
N.H. (26 Jahre)

AM: Wenn Ihnen das Drama so sehr geholfen hat, Ihr Leben zu verstehen, und Sie mehr verstehen wollen, weshalb versuchen Sie nicht, sich auch durch meine anderen Bücher zusätzliche Informationen zu verschaffen? Dort finden Sie die Antworten auf alle Fragen, die Sie mir stellen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet