“Elternämter”

“Elternämter”
Thursday 18 February 2010

Sehr geehrte Frau Miller,

ich hatte gar nicht vor, Ihnen zu schreiben, aber Ihr Buch hat mich tief bewegt und vieles für mich in Bewegung gesetzt, außerdem meine Gedanken bestätigt.
Ich bin mit 17 ausgezogen, meine Mutter wird nie verstehen warum, will es auch gar nicht. Heute kann ich sagen, ehrlich, ohne Zweifel:“Sie liebt mich nicht, weil sie es nicht kann“ und dafür verachte ich sie auch, weil sie mir so viel angetan hat. Genauso wie mein Vater. Ich wollte das nie wahrhaben, ich glaube, dass wir alle zu sehr lernen zu sagen:“Ja, alles ist toll“ oder „Schau mal, dem geht’s doch viel schlechter“. Unsere gesamte Gesellschaft ist darauf aus, Schmerzen zu verschweigen und „zu funktionieren“. Interessant war da auch eine Auseinandersetzung, die ich mit einem Lehrer hatte, der felsenfest behauptet hat, dass egal was mit dem Kind geschehen ist, es dankbar sein muss, dass die Mutter es in die Welt gesetzt hat. Als ich darauf erwiderte, dass ich das überhaupt nicht so sehe, da sich die Eltern für das Kind entschieden haben, also aus egoistischen Gründen, und man wohl nicht erwarten könne, dass Kinder, die gequält wurden ihre Eltern dafür auch noch lieben, hat er den Kontakt abgebrochen.

Was er seinen Schülern beibringt, möchte ich gar nicht wissen. Und doch ist die Mehrheit der Gesellschaft doch seiner Meinung. Egal was das Kind durchmacht, es hat die Eltern zu lieben. Die Eltern haben die Macht, auch wenn es um Fragen des Jugendamtes geht. Die Eltern haben das Recht Hilfe zu beantragen, das Kind aber nicht. Wieso heißt das ganze dann „Jugendamt“? Dann könnte man es auch gleich „Elternamt“ nennen, das wäre treffender. All das wage ich jetzt auszusprechen, gerade durch Ihr Buch und die anderen Leserbriefe, denn früher dachte ich auch immer:“Das bildest du dir nur ein“, aber ich bilde mir gar nichts ein, das ist schon alles zu real um es zu verdrängen.

Stille und Gewalt, das war meine ganze Kindheit, ich die Verantwortliche, immer- und gleichzeitig das dumme Kind, das man quälen und für seine Zwecke missbrauchen konnte. Was dabei rauskam? Ein Mädchen, das anderen nicht mal in die Augen schauen konnte. Ein Mädchen, das gedacht hat, sie ist nichts wert und die sterben wollte, weil sie sich nutzlos gefühlt hat. Eine Mutter, die ständig herumgebrüllt und ihre Kinder geschlagen hat, ein Vater, der frauenfeindlich ist, alle für seine Zwecke benutzt und das Mädchen ausnutzte. So war das, aber ich habe meine Eltern immer in Schutz genommen. Auch als ich ausgezogen bin, obwohl meine Mutter keinerlei Regung gezeigt hat und ich wusste, dass es ihr egal ist. Dass sie mich nur wieder zurückhaben will, weil ich eine so gute Haushaltshilfe war. Im Endeffekt war ich ein Instrument. Mehr nicht.
Das zu sehen, zu sehen, dass meine Eltern mich schamlos ausgenutzt haben(wie wütend ich darüber heute bin!), das ist ein ganz neuer Schritt. Und befreit mich ungemein. Ich verleugne heute nichts mehr, weder dass mein Vater meine Mutter fast erwürgt hätte, noch dass wir sofort geschlagen wurden, wenn wir nicht glücklich aussahen. Heute weiß ich auch, dass ich das Recht habe wütend zu sein, rasend wütend und die Zeit, die ich damals unterdrückt verbracht habe neu aufzuarbeiten. Doch die ganze Zeit ist das Kind schuld.

Ich war verrückt, weil meine Eltern mich so behandelt haben, nicht meine Eltern, sondern ich. Ich sollte in psychologische Behandlung, obwohl meine Eltern es umso mehr gebraucht hätten. Es ist immer das Kind, das schuldig ist, weil es sich nicht wehren kann. Und in der Therapie bekommt man noch gesagt, dass Gefühle nicht gut sind und wird belohnt, wenn man schweigt. Bei Andeutungen, dass man geschlagen wurde oder dass man sich an sexuellen Missbrauch erinnert, wird man auch noch folgendermaßen zurecht gewiesen:“Das kann aber auch alles nur Einbildung sein“. Natürlich!
Gerade dann, wenn das Kind ewig braucht um es überhaupt zu sagen und vor Angst zittert.
Richtig, das muss Einbildung sein.

Auch darüber bin ich heute sauer und ich habe meiner damaligen Therapeutin auch gesagt, dass sie niemals wieder einem Kind statt zu helfen vorschlagen soll, Tabletten zu nehmen. Ich glaube, dass alle Psychopharmaka, die heute an Kindern ausprobiert werden, dazu dienen, die Schmerzen der Erwachsenen zu unterdrücken, denn Kinder sagen die Wahrheit. Und die Wahrheit ist immer unerträglich, gerade für Erwachsene, die selbst geschlagene Kinder waren. Ich weiß gar nicht, warum ich das alles schreibe, aber ich habe es satt zu schweigen und das alles hinzunehmen und ich bin froh, dass es Menschen gibt, die auch ihr Schweigen brechen und ich würde am liebsten jedem Therapeuten, jedem Elternteil Ihr Buch um die Ohren knallen, damit sie es endlich lesen und an sich arbeiten, denn lesen allein reicht natürlich nicht, man muss auch nachdenken und nachfühlen, was man dort gelesen hat. Dies ist aber für die meisten unvorstellbar.

Dabei würde es sich lohnen, denn ich kann heute sagen, dass ich meinen Weg gehe.
Schritt für Schritt nach vorne und ich werde jeden Tag lebendiger, froher und ich gehe durch die Schmerzen hindurch,
weil ich weiß, dass ich so endlich lerne, wer ich bin. Jeder Tag bedeutet mir heute so viel mehr als früher, es ist
ein unendliches Geschenk sich zu fühlen, auch wenn es noch so weh tut. Daher würde ich jeden ermuntern genau
hinzuschauen und ich hoffe, dass ich diesen Weg weiter guten Mutes beschreiten werde und mein Leben wirklich
zu meinem Leben mache, jeden Tag einen Schritt weiter. So ehrlich zu mir selbst wie möglich.

Ich hoffe einfach, dass die Menschen größeren Mut beweisen, dass sie sich nicht betäuben, sondern der Wahrheit einfach entgegen treten, dass sie sagen können:“So war es, jetzt kann es anders werden“ und die Verantwortung übernehmen. Und ich wünsche mir Menschen, die hinschauen, die nicht schweigen, wenn sie sehen, wie es einem Kind geht, die zupacken und anpacken, die den Mut haben ihre eigenen Gefühle ernst zu nehmen und sich der breiten Masse entgegen zu stellen, die noch immer schweigt. Denn wie Albert Einstein auch mal sagte:

„Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange es noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt“.

AM: Ich danke Ihnen sehr für Ihren klaren und in seiner Einfachheit so bewegenden Brief. Es ist genauso: Die Jugendämter müssten “Elternämter” genannt werden, denn sie tun nichts anderes als die Eltern in ihrem Kampf gegen den Nachwuchs zu stützen und ihre Mitarbeiter davor bewahren, sich die Not eines misshandelten Kindes vorzustellen, damit sie ihre eigene Verleugnung über das einst erlittene gut pflegen können. Dafür werden diese noch bezahlt. Die ganze Gesellschaft: Lehrer, Therapeuten, Anwälte, Richter, Priester, will nichts davon wissen, dass seit Tausenden von Jahren Kinder gequält werden, um die einst verdrängten Qualen an ihnen abzuladen. Wenn Sie französisch verstehen, lesen Sie das neue Buch von Pierre Lassus “L’enfance du crime”.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet