Unterdrückte Wut

Unterdrückte Wut
Monday 09 January 2006

Wir veröffentlichen an dieser Stelle von uns übersetzte Zuschriften aus der französischen Leserpost, weil sie Aspekte ansprechen, die für alle Besucher dieser Seite von Interesse sein könnten:

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09. Januar 2006

Guten Tag,

Meine Vorname ist S. Ich bin Französin und 28 Jahre alt. Seit nunmehr einem Jahr leide ich unter Angstzuständen und starken Spannungskopfschmerzen. Ich werde von einer Psychologin begleitet, mit der ich versuche, die verdrängten Gefühle meiner Kindheit wieder zu finden. Ich versuche, meine Kindheit und Jugend zusammen zu fassen.

Ich war ein artiges, introvertiertes Kind, Nachzüglerin in einer Familie von sechs Kindern. Seit meiner frühesten Lebenszeit litt meine Mutter unter Depressionen. Mein Vater war streng und zwang der Familie oft auf, zu schweigen. Im Verlauf seiner Bankkarriere hat er sich wenig um uns gekümmert. Meine Mutter versuchte mehr schlecht als recht, uns aufzuziehen, wir (besonders ich) waren wie eine Krücke für ihre abgebrochene Laufbahn als Modemacherin. Ich wurde fünf Jahre nach meiner älteren Schwester geboren, und hatte aufgrund des Altersabstands zu meinen älteren Geschwistern das Gefühl, die einzige Tochter zu sein. Ich lief ihnen viel hinterher, in der Hoffnung, dass sie sich um mich kümmern würden, aber vergeblich. Ich war daher ein durchsichtiges Kind. Mit neun Jahren nahm ich an einem sechsmonatigen Sprachenaustausch in England teil. Natürlich wurde mir das nicht aufgezwungen, wenigstens habe ich das lange geglaubt. Hier ein Auszug aus meinem Tagbuch, der zusammenfasst, was ich erlebt habe:

„Was geht in mir vor, wenn man mich fragt, ob ich nach England fahren will? Ich sage sofort ja. Muss meinem lähmenden Familienkreis entkommen. Muss meinem Vater gefallen. Er ist so mächtig. Und ich glaube, ich bin allein verantwortlich für die Abreise. Aber was weiß ich über die Bedeutung dieser Entscheidung? Ich bin nur neun Jahre alt!! Ich bin zerrissen. Ich bin herausgerissen aus meiner Kultur, meinem Lebensmittelpunkt. Vor Ort empfange ich nicht die geringste Fürsorge, keinen Respekt, kein Gehör, keinen Trost. Ich kann nicht kommunizieren, ich muss angesichts einer Horde scheußlicher Jungs schweigen, denen gegenüber die Eltern so weich sind … Jeden Abend lässt die tägliche Anspannung etwas nach und die Tränen sprechen. Sechs Monate das Gefühl der Verlassenheit, vertuschtes Bluten, Durchfall. Sechs Monate Spott, Angst, Unwohlsein. In diesem Alter kommt es mir selbstverständlich vor, dass ich die Situation akzeptieren muss und meine Eltern nicht enttäuschen darf. Also verstecke ich, so gut es geht, meine Gefühle, und alle sind zufrieden…“

Nach meiner Rückkehr aus England habe ich eine gewisse Stummheit entwickelt, die in meiner Umgebung unbeachtet blieb.

Dann kam die Jugend: Meine Mutter ist immer noch stark depressiv. Wiederholte Suizidversuche. Mit meinem ohnmächtigen Vater bin ich der einzige Zeuge der Medikamente, die meine Mutter – begleitet von Alkohol – in den Phasen der finstersten Not nimmt. Ich bin es, die sie aufrichtet, die Feuerwehrmänner ruft, dabei versuche ich, meine Gefühle zu beherrschen (indem ich verhindere, dass sie deutlich an die Oberfläche kommen).

Verfehltes Studium, dann Umschulung, heute habe ich eine Stelle als Direktionsassistentin inne. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt gut, aber ich habe mir diesen Beruf nicht ausgesucht. Das ist eine Antwort auf die Erwartungen meiner Eltern, während mich die Musik und der Tanz, die ich nicht praktiziere, in Schwingungen versetzen. Meine Schuld. Ich arbeite daran.

Inzwischen habe ich seit sieben Monaten Kopfschmerzen, ich habe den Eindruck, ständig benommen zu sein, mein Blutdruck kann stark abfallen. Ich nehme Antidepressiva und bin zwei Mal in der Woche in der Psychotherapie. Ich liebe meine Eltern, die sich um mich Sorgen machen … Meine nächtlichen Träume sind im wesentlichen Szenen, wo ich gegenüber einem Haufen von Leuten aus meiner Umgebung wütend werde (ich schlage meine Schwester, zerschlage Geschirr, zünde meine Kollegin an etc.).

Ich habe große Lust, mit der medikamentösen Behandlung aufzuhören, aber ich habe Angst. Extreme Angst, dass meine Situation unumkehrbar ist. Ihr Buch hilft mir dabei zu glauben, dass dieser Zustand vorübergehend ist und dass es mir gelingen wird, gesund zu werden, indem ich meine bedingt durch die Kindheit verdrängten Gefühle wiederfinde.

Jeder Rat von Ihrer Seite ist mir willkommen. Danke für das Lesen.

S.

AM: Sie schreiben:

„Inzwischen habe ich seit sieben Monaten Kopfschmerzen, ich habe den Eindruck, ständig benommen zu sein, mein Blutdruck kann stark abfallen. Ich nehme Antidepressiva und bin zwei Mal in der Woche in der Psychotherapie. Ich liebe meine Eltern, die sich um mich Sorgen machen … Meine nächtlichen Träume sind im wesentlichen Szenen, wo ich gegenüber einem Haufen von Leuten aus meiner Umgebung wütend werde (ich schlage meine Schwester, zerschlage Geschirr, zünde meine Kollegin an etc.).

Ich habe große Lust, mit der medikamentösen Behandlung aufzuhören, aber ich habe Angst. Extreme Angst, dass meine Situation unumkehrbar ist. Ihr Buch hilft mir dabei, zu glauben, dass dieser Zustand vorübergehend ist und dass es mir gelingen wird, gesund zu werden, indem ich meine bedingt durch die Kindheit verdrängten Gefühle wiederfinde.

Jeder Rat von Ihrer Seite ist mir willkommen. Danke für das Lesen.“

Die Depression zeigt Ihnen, dass Sie Ihre stärksten Gefühle unterdrücken. Wenn Sie Antidepressiva nehmen, unterdrücken Sie auch Ihre Wahrheit. Sie lieben Ihre Eltern und in der Nacht fühlen Sie Wut – glücklicherweise fühlen Sie sie noch. Ich hoffe, dass Ihre Therapeutin Ihnen helfen kann, zu verstehen, wer Ihre Wut verdient und warum. Wenn sich das Kind, das Grausamkeit erdulden musste, von einem mutigen Zeugen begleitet fühlt, werden Sie keine Medikamente mehr brauchen und in der Lage sein, zu fühlen und die Ursachen Ihres Leidens zu verstehen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet