Versuchter Seelenmord

Versuchter Seelenmord
Tuesday 09 February 2010

Liebe Frau Miller!

Ich danke ihnen für diese Seite, sie leisten eine ganz fantastische Arbeit! Sie haben Leben in mein Leben gebracht, meine Gedanken sind in Bewegung geraten. Für Menschen wie mich sind sie ein Geschenk!

Ich möchte diesen Raum nutzen, für mich, die ich einst stumm war, wenn ich darf. Ich habe nicht mehr gesprochen mit den Menschen, sie waren und sind bedrohlich. Heute spreche ich wieder, nach langen Jahren, aber was in mir ist, das zeige ich noch immer nicht.

Seit 9 Jahren schreibe ich, und ich habe sie gefunden, meine Sprache. Ich kann das Kind beschreiben, das in mir ist, ich kann beschreiben, was es gefühlt, gedacht, befürchtet und erlebt hat, der Erinnerungen sind viele. Es möchte der Welt sagen, was ihm zugestoßen ist, es möchte erzählen, von den Schrecken, die es gelähmt haben. Ein Leben in Angst und Schrecken, jeden Tag, jede Sekunde.

Ich war 13, als meine Schwester und ich begannen, aufzuschreiben, was uns bewegte. Es waren kleine Blöcke, in die wir schrieben, jeden Abend; ich besitze ihn noch heute. Eine krakelige Schrift, kurze Sätze. Es war bedeutsam, was ich im Fernsehen gesehen hatte, denn hier war das Leben, ein anderes gab es nicht. Es war für mich erwähnenswert, welche Serie mir gefiel und ob die Folge gut war oder nicht. Manchmal benannte ich kurz, was wir gespielt hatten. Mehr hatte ich nicht zu sagen.

Es waren 17 Tage meines Lebens in knappen Worten, dann endeten die Einträge plötzlich, denn es war etwas geschehen, etwas Entsetzliches, etwas ganz Grauenvolles!

Meine Schwester schlief unten und ich oben in einem Stockwerkbett, wir schrieben gerade unsere „Geheimnisse“ auf. Plötzlich ging die Tür auf, ich erschrecke und wie im Reflex, versuchte ich zu verbergen, was ich gerade tat.

Die Mutter, sie war hereingeplatzt und jetzt donnert sie uns an: „Schlafen die immer noch nicht? Wieso haben die das Licht an? Was machen die da?“

Sie hatte gesehen, dass wir etwas taten, in dem Augenblick, als sie herein gepoltert gekommen war. Nun kam sie trampelnd und wutschnaubend auf unser Bett zu. Mir schlägt das Herz bis zum Hals.

„Was hat die da“, faucht sie mich an.

Sie schlägt meine Decke zurück, und da liegen sie, meine Geheimnisse. Sie entreißt sie mir und die meiner Schwester auch. Ihr nicht zu geben, was sie begehrte, stand völlig außer Frage, sie hätte uns eh enteignet.

Sie geht fort mit dem, was uns gehört, sie verschwand einfach damit. Sie verschwand mit dem, was ich dachte, mit dem, was mir wichtig war. Was tat sie damit?

Und der blanke Horror begann.

Angst, überall in meinem Körper, in jeder Faser, bei jedem Atemzug, sie war im Bauch, im Kopf und sie rumorte und rumpelte überall.

Was hatte ich geschrieben? Hatte ich etwas Schlimmes geschrieben? Nein, hoffentlich nicht, nein, ich hatte ganz bestimmt nichts Schlimmes geschrieben. Hoffentlich war nichts dabei, worüber sie sich erzürnen würde und hoffentlich, hoffentlich hatte ich nichts über sie geschrieben, hatte ich doch nicht, oder doch?

Oh Gott, ich kann mich nicht erinnern, was ich geschrieben habe, warum, warum nur kann ich mich nicht erinnern? Ich zerquetsche mein Hirn, aber da ist nichts drin, es kommt nichts heraus, was nur habe ich geschrieben?

Mein Körper, er bebt, überall strömt und brennt diese grässliche Angst, ich weiß nicht wohin.

Meine Gedanken, sie hat meine Gedanken, was tut sie damit? Jetzt wusste sie auch noch was ich dachte, was ich fühlte, sie wusste von nun an, woran mir etwas lag. Jetzt war sie hier auch noch eingedrungen, tief in mich eingedrungen, sie hatte sich eingemischt, sie durchdrang mich ganz und gar, sie vergiftete mich mit ihren ekligen Blicken und mit ihren widerlichen Worten. Sie verleibte sich ein, was mir gehörte, sie verleibte sich mich ein, sie fraß mich auf von innen. Das war eklig, das war so abgrundtief eklig!

Ich wollte das nicht, ich wollte nicht, dass sie das tat, ich wollte nicht, dass sie las, was ich dachte. Doch sie tat es einfach, sie nahm sich einfach, was sie wollte von mir, weil sie meine Mutter war. Und ich, ich war ein Niemand, von mir durfte sie nehmen, was sie wollte, wann sie wollte, so viel sie wollte.

Durfte ich jetzt noch denken, was ich wollte? Würde sie mir von nun an auch hier noch vorschreiben, was ich zu denken, zu fühlen und zu schreiben hatte, in meinem kleinen Block? Würde sie mich nun auch hier noch kontrollieren und musste ich aufpassen, was ich dachte? Durfte ich gar nichts Eigenes haben? War alles ihrs?

Die Angst, sie saß mir im Genick, sie marterte mich, sie folterte mich, sie bohrte und quälte, dass es mich schmerzte überall.

Was tat sie, wenn sie wiederkam? Oh Gott, was würde sie mit mir machen? Hatte jetzt meine letzte Stunde geschlagen und würde sie meinem Leben ein Ende setzen?

Sie würde donnern, sie würde schreien, sie würde brüllen wie ein Tier! Sie würde sich auf mich stürzen, sie würde über mich herfallen, sie würde mich überrollen, sie würde schlagen mit ihren Fäusten, mit ihrem Schuh. Sie wäre wild und wahnsinnig, wie von Sinnen, sie würde wüten über mir, sie würde mich vernichten!

Die Angst, sie betäubte meine Sinne, sie war lärmend und geifernd, sie polterte und tobte laut, sie ließ mich beinahe zerschellen am Abgrund der Ausweglosigkeit.

Wann, wann kam sie endlich? Wann kam sie wieder? Was tat sie so lange? War sie nicht endlich fertig mit ihrer dreckigen Schandtat? Warum las sie so lange? Hatten wir so viel geschrieben? Dachte sie sich schon etwas aus für uns? Wusste sie schon, was sie uns antun wollte? Warum kam sie nicht endlich? Dann wäre es vorbei, dann musste ich keine Angst mehr haben, ich würde endlich spüren, was ich verdient hatte, die Qual, die Qual, sie hätte ein Ende dann.

Mein Herz, es schlägt laut und lauter, es wollte beinahe zerspringen unter der Last dieses Grauens.

Ich war ihr ausgeliefert, schutzlos und ohnmächtig. Ich konnte nicht fliehen, ich konnte nicht entschwinden, mich nicht davon machen, nicht einfach in die Ferne fliegen.

Doch ich wollte fort, fort von diesem Ort, ich wollte woanders sein, ganz woanders, in einem fernen Land, wo es gut, wo es schön, wo es sicher war.

Warum konnte ich nicht einfach weg sein, warum ging das nicht, warum musste ich hier sein, hier am Tor der Hölle?

Warum konnte ich nicht sterben: JETZT! Ja, tot, tot wollte ich sein, damit ich nicht mehr da war, wenn sie wiederkam.

Sie kam, krachend und grollend.

Es wurde heiß und kalt zugleich, es strömte noch mehr in mir, mein Herz, mein Herz, es saß jetzt im Hals, es pochte dröhnend und tosend und das Entsetzen ließ alles gefrieren in mir.

Ihre Stimme erhob sich grell und keifend im ganzen Raum, sie füllte jede Ritze: „Noch nicht einmal Tagebücher können die schreiben und so was geht aufs Gymnasium! Was lernen die da eigentlich? Und was für einen Mist die so schreiben! Nur unwichtiges Zeug! Nur übers Fernsehen, das ist aber wichtig! Ich bin ja unwichtig, über mich schreiben se gar nichts, es ist ja nicht wichtig, was ich den ganzen Tag mache, ich bin ja niemand! Nur den Dreck, den darf ich hinter denen wegräumen, dafür bin ich gut genug! Den Rücken darf ich für die krumm machen und so danken se’s dann einem! An mich denken die nie! Nur die sind wichtig, denken die auch mal an etwas anderes als an sich?“

Jetzt kommt sie auf mich zu, ihr Gesicht, es ist so finster, vor Zorn verzerrt, von der Wut zerfressen.

Sie greift nach dem Brett an meinem oberen Stockwerkbett, das verhindert, dass ich hinausfallen könnte. Man kann es mit einem Griff nach oben herausziehen.

Sie deckt mich auf und nun schlägt sie mit dem Brett auf mir herum, immer und immer wieder, wie von Sinnen, während sie fauchend hervorstößt: „Und ohne Grund habe ich die ins Bett geschickt, ja, ja? Was die da so schreibt! Ich habe die ganz bestimmt nicht ohne Grund ins Bett geschickt, hat se wieder nicht kapiert, die blöde Kuh, die! Irgendetwas werden die schon angestellt haben, die blöden Gören! Ich schick die doch nicht ohne Grund ins Bett! Und rächen will die sich an mir, ja, ja? Ich werd’s der schon zeigen! Das Rächen wird der schon noch vergehen!“

Die Schläge, ich spüre sie gar nicht, nein, sie sind die Erlösung, sie sind das, worauf ich gewartet hatte. Sie sind meine Befreiung, meine Rettung aus dem Schlund des Todes, denn endlich, endlich muss ich keine Angst mehr haben! Ich kenne jetzt das Ende, ich spüre jetzt das Ende, ich bekomme das, was ich verdient habe für meine Missetat. Die Tortur, die Folter, das Grauen hat nun ein Ende, endlich, endlich!

Die Schläge, ich spürte sie zwar kaum, aber es ging dennoch etwas verloren dabei. Mein Bett, es war mein sicherster Ort gewesen. Ich dachte, hier bräuchte ich keine Angst haben vor ihr, hier könnte ich sorglos sein. Ich dachte, hier würde sie mich nicht angreifen, nicht über mich herfallen, mich nicht behelligen, mich nicht auch noch peinigen. Doch jetzt war sie auch hier, sie machte auch hier keinen Halt mit ihren Grausamkeiten, Übergriffen und Foltermethoden.

Nun hatte ich erfahren, was ich geschrieben hatte und oh Gott, jetzt wusste sie es, jetzt wusste sie, dass ich mich an ihr rächen wollte. Das durfte ich doch nicht, das durfte nicht sein, das durfte ich auf keinen Fall und sie, sie durfte das schon gar nicht wissen!

Sie hatte mich erwischt, sie hatte mich ertappt bei meinen bösen, bösen Gedanken, die ich doch gar nicht haben durfte!

Was dachte sie jetzt über mich, dass ich noch viel, viel schlechter war, als ich eh schon war? Ein Kind, dass sich an der Mutter rächen wollte, nein, nein, das durfte es nicht geben! Diesen Wunsch durfte ich nicht haben, nie, nie wieder und vor allen Dingen durfte sie nie, nie wieder davon erfahren.

Aber dass sie uns schon zum zweiten Mal ohne Grund sehr früh zu Bett geschickt hatte, das stimmte, das wusste ich ganz genau. Wir hatten nichts getan, das war ganz sicher. Sie hatte sich mit dem Vater gestritten, da waren wir Kinder ihr einfach nur noch lästiger gewesen…

Vorbei, endlich ist es vorbei!

Oder doch nicht?

Zwei Jahre später pries sie an, sie würde zu Weihnachten etwas schenken, was wir schon einmal gehabt hatten, aber nicht so richtig. Ich hatte keine Vorstellung, was das sein könnte.

Schließlich war es so weit, Weihnachten. Meine Schwester und ich bekamen abschließbare Tagebücher.

Wir durften nun doch Tagebuch führen? Sie erlaubte uns das? Wir durften eigenen Gedanken haben und sie auch aufschreiben, meinte sie es so?

Ich fiel herein, auf ihren Trick, und meine Schwester ebenfalls.

Wir schrieben in unsere Bücher, ahnungslos, sorglos, man konnte sie ja abschließen, es konnte nichts passieren.

Doch eines Tages, sie sagte etwas, ich stutzte, das kannte ich. Doch sie, sie konnte es nicht wissen, ich hatte nichts erzählt davon.

Ich schaute nach, und ja, da stand es, in meinem Tagebuch, ich war entsetzt!

Wie konnte das sein? Dann probierte ich. Man konnte in dem Buch lesen, auch wenn es abgeschlossen war. Man konnte es einen Spalt öffnen und dann hineinsehen und so mit Mühe etwas lesen.

Dafür hatte sie uns also die Bücher geschenkt! Damit sie lesen konnte, wie damals, nur diesmal ungestört, heimlich und hinterhältig!

Doch jetzt dachte ich mir einen Trick aus. Ich bastelte eine Hülle, die ich sämtlichen Seiten überstülpen konnte. Jetzt war es dicht, ganz fest zu, niemand konnte mehr hineinsehen. Man konnte den Deckel zwar noch immer anheben, aber nicht ein Fitzelchen von den weißen Blättern war zu sehen.

Das Gesicht meiner Mutter hätte ich sehen wollen, als sie merkte, dass sie nun nicht mehr lesen konnte!

Meine Schwester hatte anders gehandelt, sie hatte sämtliche Blätter herausgerissen und benutzte das Buch nicht mehr.

Meine Mutter war erbost: „Hat se die Blätter herausgerissen, damit ich da nicht mehr drin lesen kann.“

Sie empfand es offenbar nicht als falsch, in ihrer Kinder Tagebücher zu lesen, noch schlimmer, sie beschwerte sich sogar, wenn wir uns vor ihr zu schützen suchten.

Auf mich reagierte sie anders. Sie sah mich finster an, ich wusste genau, was dieser Blick bedeutete. Sie war böse, sehr böse, dass sie in meinem Buch nun auch nicht mehr lesen konnte. Sie sagte aber nichts, sie wagte es nicht, zu fordern, meine gebastelte Hülle zu entfernen, damit sie darin lesen konnte…

Das Grauen: gestohlene Gedanken, gestohlene Gefühle.

Sie drang in mich, ganz tief, bis in mein Innerstes, um auch hier noch zu wüten, um mich zu zerfressen, um mich vollends zu zerstören.

Es ist befreiend, alles gesagt zu haben, das darf ich doch, oder? Dann bin ich nicht mehr so allein damit.

Liebe Grüße U.S.

AM: Ihrer schrecklichen Mutter ist es offenbar nicht gelungen, Ihr Talent zum Schreiben ganz zu vernichten. Denn Ihre Darstellung der Bosheit und Gemeinheit Ihrer Mutter ist so stark, dass einem beim Lesen das Blut erfriert. Es ist ein Glück, dass Sie den Mut haben, Ihre Wahrheit zu sehen, das wird Ihr Leben retten und Sie von den Ängsten befreien. Ihre Todesängste sind allzu begreiflich. Denn sie WOLLTE Ihre Seele umbringen, und tat alles, mit einer extremen Konsequenz, um ihr Ziel zu erreichen. Aber das ist ihr nicht gelungen und kann ihr nicht mehr gelingen, weil Sie sich nicht länger verwirren lasssen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet