Verwirrende Therapeuten
Sunday 03 December 2006
Liebe Alice Miller,
ich habe alle Ihre Bücher gelesen und nun auch die Artikel und Leserbriefe hier. Was mich so beschäftigt ist, dass ich meine hartnäckigen Schuldgefühle nicht aufgelöst bekomme. Ich bin so verzweifelt und fühle mich so verwirrt. Im Moment weiß ich nicht, ob ich mir trauen kann oder nicht, was wahr oder falsch ist… Und vor allem ob ich mich jemals allein von meiner Vergangenheit befreien kann, sie erstickt mich.
Ich weiß dass ich mit meinen Erinnerungen leben muss, aber ich will nicht mehr in der Vergangenheit leben.
Es geht um einen Lebensausschnitt den ich noch nicht bewältigt habe, der mich bedrückt…
Ich habe immer so schwere Alpträume und oft ist es das Haus meiner Eltern, meiner Mutter. Oft sind es auch fremde Menschen. Ich kann mich nirgends verstecken, habe selbst in meinem Zimmer keinen Platz wo ich sicher bin. Das Haus hat keine Türen die man verschließen kann. Ich träume oft sexuelle Träume. Meine Mutter hat sexuellen Kontakt mit mir, befriedigt sich an mir, aber auch ein Mann ist dabei. Sie küsst mich, wie ein Mann eine Frau küsst. Ich träume das ich mit meiner Mutter auf einer Bank sitze und sie mir über den Rücken streichelt, im Traum spüre ich wie unangenehm das für mich ist. Ich träume das ich in einem alten Schuppen liege zwischen Spinnweben, Staub und Dreck, das ich nackt auf einer Toilette sitze und nicht runter komme weil ich so viel Wasser lassen muss. Ich träume das ich so häßlich alt und verhutzelt bin, von fauligen Zähnen…
Tagsüber tauchen oft Bilder, Erinnerungen von meiner Mutter auf wie sie mich anschaut unschuldig mit Kußmund, devot, ängstlich wie ein kleines Kind mit klappernden Augen, die mir sagen, sei bitte schön lieb zu mir, wie sie alles liebevoll kommentiert und bewertet, was ich heute tue. Die Bilder zwingen mich sie zu sehen…Meine Mutter hat mich so absorbiert, dass nichts von mir übrig geblieben ist. Ich fühle mich von ihrem Neid verfolgt…
Mein Stiefvater schrie und schlug oft unseren Hund, der vor Angst ihm ins Gesicht pullerte. Er zog ihn am Halsband hoch in die Luft während seine Schläge mit dem Stock auf dem Rücken des Hundes prasselten, dann warf er ihn durch den Garten, der Hund jaulte. Meine Mutter duldete das. Und ich musste meiner Mutter zu Liebe stumm sein. Sie sagte immer, sei schön lieb, reg dich nicht auf, nicht ärgern…Mutti hat dich lieb…Weder Wut, Aufbegehren noch eingreifen waren mir gestattet. Abends lag dieses Scheusal von Mensch vor dem Fernseher auf dem Sofa in Unterhemd und Unterhose, seine Geschlechtsteile schauten raus. Er hatte immer eine Hand in der Unterhose dabei. Sein Untergebiß lag auf dem Tisch. Während er ständig auf seiner Unterlippe kaute und schmatze und er uns mit seinen Blicken kontrollierte, wenn er nicht widerlich rumbrüllte oder abfällige demütigende Bemerkungen über mich machte…
Meine Mutter ignorierte das, sie strickte. Das waren alltägliche Abende….Meine Mutter wollte die sexuellen Übergriffe die er an mir begangen hatte nicht sehen. Es gab keine Grenzen von offen zur Schau getragenen Intimitäten bis zur weit offen gelassenen Toilettentür, wenn einer von den beiden darauf saß… Ich habe nur diese schrecklichen Träume, die oft auch nur schwarz sind, wo ich schreie, stumm schreie…Meine Mutter konnte nicht müde werden mir ohne Unterlaß zu versichern, dass sie mich so lieb hat…, dass sie mich versteht…
Meine Mutter zwang mich diesem Mann „Vaterliebe“ zu erweisen. Er forderte das ich ihn richtig auf den Mund küssen sollte, obwohl ich ihn so abstoßend fand.
Einmal als 13jährige habe ich ihm gesagt, wie widerlich es empfinde wenn er vor der Kaffetasse sitzt und den Hund mit seinem Fuß stimmuliert…Daraufhin meinter er, pass auf das du es später nicht selbst mit Hunden treibst…
Ich mochte meine Mutter körperlich nie, ich fand ihren Körper bedrängend, besitzergreifend, abstoßend…Obwohl sie einen sehr sauberen Körper hat. Sie hat mich einmal als Kind geküsst wie man nur einen Mann küsst, sie hat sich einfach vergessen. Betroffen wich ich zurück..Sie wollte nie einen wirklichen Kontakt mit mir. Sie konnte nie mit mir reden…
In diesen schrecklichen Jahren habe ich funktioniert wie ein Marionette, die grössten Erniedrigungen einfach weggelächelt…Meine Mutter musste mich ständig fragen, ob sie denn auch hübsch ist und wenn ich ja sagte, auch aus Überzeugung, zeigte sie mir ihre Körperteile,alles was sie an sich hässlich fand..Zähne oder ihr Haar…, überhaupt hatte ich nie eine Chance, dass sie sich hübsch fand, sie sagte dann zur mir, das sagst du jetzt nur so, du hast so schöne Haare, so schöne Zähne guck mal wie häßlich ich bin…
Mit 17 dürfte ich das erste Mal allein verreisen, als ich zurück kam, machte sie die Haustür auf und das erste was sie sagte war: weißt du was er (mein Stiefvater) alles angestellt hat?…Ich ging wortlos in mein Zimmer. Sie kam hinterher und fragte enttäuscht, was ist denn los, du sagst ja gar nichts…So war es immer, was sollte ich darauf sagen, als 10jährige habe ich sie vor Angst gebettelt mich zu beschützen…
Wenn ich mal meine Gefühle nicht unter Kontrolle hatte und ich dadurch ein Gespräch herausforderte, sagte sie: du willst bloß rumstänkern, mich ärgern…Jede Erklärung meinerseits war zwecklos. So oft entschuldigte ich mich dann, weil ich aufgebracht war. Sie sagte dann, ich weiß doch, du bist nicht böse…
Ich bin auch heute nicht in der Lage wirklich mit Menschen in Kontakt zu kommen. Ich fühle mich ungewollt und vermeide jedes nähere Gespräch. Ich schaffe es nicht mich in der Nähe von Menschen, auch wenn Sie mich interessieren wohl zu fühlen bzw. mich zu spüren…Ich möchte immer flüchten, gar nicht da sein, verstecken…
Als ich 18 war wollte ich ausziehen weil ich das nicht mehr aushalten konnte. Meine Mutter beruhigte mich und sagte, er ist doch krank und so lange lebt er nicht mehr…Irgendwann bekam ich mit, dass sie ihm Tabletten ins Essen mischte. Sie sagte, es wären nur Beruhigungsmittel, also Schlafmittel die er verschrieben bekommen hat. Heute überlege ich mir, ob es nicht noch andere Mittel waren…Ein halbes Jahr vegetierte er noch dahin, dann starb er, leicht verwirrt. Die Ärzte hatten zuvor schon eine Verkalkung diagnostiziert. Meine Mutter hat nachgeholfen, vielleicht aus Angst das ich ausziehen könnte? Später bin ich dann trotzdem ausgezogen…Meine Mutter ist eine M…in und sieht aus wie ein Engel. Darf man das sagen?
Sie wollte mich nie bekommen, sie hat mit aller Macht die Geburt verhindern wollen, ich wäre fast tot geboren worden…
Bitte verzeihen Sie mir, dass ich das geschrieben habe…ich habe so schreckliche Angst. Ich schäme mich so…Aber ich habe nichts getan, ausser das ich bis heute, bis eben jetzt darüber geschwiegen habe…
Es gab weder Schutz noch Rückzug für mich…Ich werde diese Bilder nicht los, sie quälen mich… Sie sind in meine Seele eingebrannt…Ich schäme mich so sehr. Ich fühle mich für immer gezeichnet, gebrandmarkt…Und laufe heute noch vor Beziehungen davon, damit niemand merkt, was ich in mir trage, damit man mich nicht verurteilt, nicht erneut verletzt…
In der Zeit, nach dem Tod meines Stiefvaters, wurde ich nachts von Stimmen wach. Ich hörte Musik und musste mit erschrecken feststellen, dass sie nur in meinem Kopf existierte…Ich hatte solche Angst den Verstand zu verlieren… Meine Mutter bat ich, wenn ich den Verstand verliere soll sie mich umbringen. …Einige Zeit später und das war mein Glück, lernte ich eine Arbeitskollegin kennen, ich war schon 20, der ich etwas über meine Ängste mitteilen konnte…Das unglaubliche ist passiert, die Musik in meinem Kopf hörte auf und ich wußte, das es durch seelische Überlastung kam…
Ich habe meiner Mutter nach ihrem Schlaganfall 8 Jahre lang die Haare frisiert, sie versorgt, mich um sie gekümmert…Erst durch Ihr Buch „Die Revolte des Körpers“ fand ich die nötige Kraft mich von meiner Mutter zu trennen. Ich habe diesen Sommer meine wichtigsten Dinge aus diesem Haus ausgeräumt. Allein konnte ich es nicht mehr betreten. Ich habe eine Freundin mitgenommen. Ich hatte plötzlich solche Angst umgebracht zu werden, Gefühle die ich vorher nie hatte…Aber ich habe es geschafft, ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr! Das verdanke ich ihrem Buch!!!
Es fällt mir so schwer mich anzunehmen, mich anzusehen, mich zu berühren ohne Scham und Ekel, selbst wenn es nur mein Gesicht ist… Ich konnte mir nie gefallen, war nie gut genug. Heute, nach so vielen Jahren, wo meine Jugend vorbei ist, fällt es mir doppelt schwer mich anzunehmen. Ich empfinde keine Würde für mich…
Kann man in jedem Alter seine Integrität erlangen, auch wenn man häßlich ist, sich selbst schön finden, des Lebens wert sein? Und ich kann doch nichts mehr rückgängig machen…Ich kann nicht glauben, dass es noch wirkliche Lebendigkeit gibt, ohne Einschränkung und Abspaltung? Ich kann nicht sehen dass es auch für mich vielleicht ein Leben in Würde gibt….
Ich finde keine klaren Gedanken mehr, fühle mich so verwirrt und habe solche Angst- und Schamgefühle…, dass ich das niemals los werde.
Eine Therapeutin meinte zu mir, der ich davon erzählen wollte: „sexueller Mißbrauch / Inszest das ist so schwierig, weil bei dem Kind Neugier und Lust eine große Rolle spielen. Kinder haben ja auch Lust an ihrem Körper…Wie haben sie als Kind ihre Sexualität empfunden…sie wollten sich was gutes tun…“ Wenn ich an meinen Stiefvater denke (ich war gerade 9 Jahre alt), verspürte ich weder Neugier noch sexuelle Lust auf diesen Menschen, geschweige denn, dass ich ihn jemals kennen wollte…Eine weitere Therapeutin sagte, als ich einen konkreten Traum hatte: „es handelt sich vorerst nur um einen Traum, wir wissen aber noch nichts konkretes. Aber zu ihrer Information: bei sexuellem Mißbrauch, werden im Körper Reize und Gefühle, Lust ausgelöst, die unwillentlich ablaufen, die das Kind noch nicht kontrollieren kann, weil es noch nichts damit anfangen kann…“ Ist das so, dass dann im Körper des Kindes Lustempfinden entsteht? Macht das die Schuld aus? Ich kann mich nicht an wirkliches Lustempfinden erinnern…Ich habe auch keine Gefühlserinnerungen mehr als mein Stiefvater sich an mir befriedigte, nur Bilder…Bevor mein Stiefvater auftauchte war ich gerne ein Mädchen, (weil mein Vater sich ein Mädchen gewünscht hatte…), später als sich dann meine Brust entwickelte schielte mein Stiefvater fasst wollüstig darauf. Er stellte mir immer nach, wenn ich im Badezimmer war…abschließen durfte ich nicht…Ich trommelte einmal vor Wut auf meine wachsende Brust. Ich wollte keine Frau werden…, lieber Mädchen bleiben…Als wirkliche Frau fühle ich mich heute nicht, eher wie ein weibliches Neutrum…Bedeutet Frausein Schuld, dass ich deshalb mich nie als Frau fühlen wollte?
Von einem Mann körperlich berührt zu werden schmerzt mich, ist mir so unangenehm, mein Körper weigert sich…Ich möchte immer nur weglaufen, obwohl ich doch zu Menschen eine Beziehung eingehen möchte…
Ich stehe vor einem riesigen Schuttberg, mein Leben das keins war. Ich bin ein seelischer Krüppel…So oft stand ich schon vor dem Suizid, .. ich habe nicht aufgegeben…Aber zu mehr hat es nicht gereicht…Ich habe keine Kinder und weiß dass es in meiner Situation eine richtige Entscheidung war…Das ich mich eines Tages lieben kann, das erwarte ich gar nicht mehr. Aber wenigstens mich in mir wohl fühlen, das wäre schon so viel…
Kann ich das allein schaffen? Ich stehe vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe. Mein Wunsch ist es wenigstens bevor ich sterbe, einmal ich selbst gewesen zu sein, einmal nur einmal spüren und wissen wie das ist…Ich habe niemanden mit dem ich darüber sprechen kann…Ehemalige Freunde oder Therapeuten die ich aufsuchte meinten, ich habe Idealvorstellungen, ich träume, solle aufwachen, das was ich will gibt es nicht…
Echte therapeutische Hilfe zu bekommen, daran bin ich bis heute gescheitert, trotz intensiver Suche nach Ihrer FAQ-Liste…Ich fürchte dass die Hoffnung genauso fatal ist, wie darauf zu warten das meine Eltern mich eines Tages doch verstehen könnten…Deswegen will ich es allein schaffen.
Ich wäre so froh und dankbar, wenn Sie Zeit finden könnten zu antworten…Bitte verzeihen Sie mir das ich das alles geschrieben habe. Aber ich habe solche Not und weiß nicht wen ich fragen soll…
Vielen Dank. C.
AM: Sie fragen: „Kann man in jedem Alter seine Integrität erlangen, auch wenn man häßlich ist, sich selbst schön finden, des Lebens wert sein?“ Ja, das kann man, in JEDEM Alter, wenn man entschlossen ist, die eigenen Gefühle, Erinnerungen und Träume ernst zu nehmen und sich nicht von ahnungslosen Therapeuten verunsichern lässt. Sie haben deutliche Erinnerungen von Ekel vor Ihrem Stiefvater und der Mutter, und das ist Ihre Wahrheit, die man Ihnen mit psychoanalytischen Deutungen auszureden versuchte. Daher Ihre Schuldgefühle. Ihr Körper gibt Ihnen wichtige Informationen und Signale, an denen dürfen Sie sich orientieren. Dass Sie hässlich sind, hat man Ihnen eingeredet, und Sie empfinden sich so, weil Sie nicht zu Ihren wahren Gefühlen stehen. Wenn Sie es mal tun können, werden Sie Ihre Schönheit entdecken. Sie schreiben: „Mein Wunsch ist es wenigstens bevor ich sterbe, einmal ich selbst gewesen zu sein, einmal nur einmal spüren und wissen wie das ist… Ich habe niemanden mit dem ich darüber sprechen kann… Ehemalige Freunde oder Therapeuten die ich aufsuchte meinten, ich habe Idealvorstellungen, ich träume, solle aufwachen, das was ich will gibt es nicht…“ Doch, natürlich gibt es das, es ist das Recht jedes Menschen, sich selbst zu sein. Und auch wenn man Sie als Kind so schwer misshandelt und gedemütigt hat, haben Sie in jedem Alter die Chance, sich dagegen aufzulehnen, Ihre Wut zu spüren, diese zu verstehen und sie sich zu erlauben, um die Spuren der an Ihnen begangenen Verbrechen zu tilgen. Sie haben keine Schuld begangen, die anderen waren schuld. Die Kindheit ist nicht nur ein Lebensabschnitt, sie ist DIE BASIS unseres ganzen Lebens, man kann sie nicht „loswerden“; man kann sie aber integrieren, sich ihrer bewusst werden. Meines Erachtens MUSS man das tun, wenn man nicht länger krank und leidend sein will. Ich wünsche Ihnen den Mut, Ihre Kindheit sehen zu wollen.