Kindesmisshandlung ist immer noch ein großes Tabu
Saturday 22 September 2007
Liebe Frau Alice Miller,
vielen Dank für Ihren Mut und Ihre Unermüdlichkeit im Kampf gegen Kindesmisshandlungen und für die Aufdeckung dieses Tabus in unserer Gesellschaft! Jahrelang habe ich nun schon immer wieder Ihre Bücher in meiner ärztlichen Praxis ausgelegt und empfohlen und sie haben viel bewirkt.
Täglich sehe ich in meiner Sprechstunde, was die Gewalt, offene und subtile, an Kindern angerichtet hat und immer noch anrichtet. Ich bin Fachärztin für Allgemeinmedizin, habe daher einen ganz anderen Werdegang als Sie und die Behandlung psychisch Kranker macht nur einen kleinen Teil meiner Arbeit aus. Doch auch bei körperlichen Leiden oder Lebensschwierigkeiten erkenne ich immer wieder den Keim in der Kindheitsgeschichte. Leider ist dies, wenn auch für mich noch so offensichtlich, nicht immer für meine Patienten erkennbar, eigentlich eher selten. Und wenn ich mir die Zeit und Mühe mache, ist diese Arbeit sehr aufwändig, für mich anstrengend und wird oft nicht bezahlt. Die Verleugnung der eigenen Kindheit geht sehr weit. Und ich bemühe mich immer um die Fakten, die real erlebte Wahrheit, sowohl objektive Taten, Umstände als auch real erlebte Gefühlswelt. Ich möchte meinen Patienten weder etwas vorschreiben oder sie zu einem bestimmten Verhalten oder bestimmten Einsichten bringen noch verbiete ich ihnen etwas. Ich begleite sie nur und spiegele. Sie müssen ihren Weg selber gehen.
Zu Beginn der Therapie ist eine Anklage oder auch nur ein Auseinandersetzen mit dem früheren Verhalten der Eltern für viele Patienten undenkbar oder sehr stark angstbesetzt; einerseits, weil „ja alles in Ordnung war“, andererseits auch tatsächlich schwierig, weil bei manchen Erkrankungen die alten Eltern, die früher schlimmste Kindesmisshandlungen begangen haben, heute die einzigen Bezugspersonen und Gefährten des Patienten sind, sich tatsächlich um ihre Kind kümmern, das ja nie selbstständig und lebensfähig werden durfte. Manchmal leiden dann alle. Und es ist schwierig, wenn man – wie ich als Hausärztin – die ganze Familie betreut und niemand will die Ursache des Leidens sehen.
Auch bei nicht mehr körperlich von den Eltern Abhängigen steht der Wunsch nach Verständigung und Versöhnung meist immer noch im Vordergrund. Das macht eine Therapie schwierig. Wenn ich diesem Wunsch zu restriktiv oder gar ablehnend gegenüberstehe, bestehen die Patienten auf einer Weiterverordnung ihrer Medikation oder brechen die Behandlung ab. Die meisten kommen allerdings irgendwann wieder. Aus dieser Erfahrung heraus bleibe ich in der Begleitung offen oder versuche Versöhnungsbegehren und dergleichen genauso wie Racheakte zurückzustellen. Meist sage ich etwa: „Sie können sich von ihren Eltern immer noch abwenden oder auch ihnen vergeben, wenn Sie die ganze Wahrheit erst einmal kennen und zugelassen haben. Ihre Entscheidung treffen Sie ganz selbstbestimmt und Sie werden sehen, was das Richtige sein wird, um gesund zu werden und zu bleiben. Wichtig ist, dass Sie nicht wieder in alte Muster zurückfallen und in das gleiche Fahrwasser geraten, in dem Sie krank geworden sind.“
Zu dieser Thematik habe ein Buch geschrieben, das im R.G. Fischer Verlag unter dem Titel „Bitte … keine Gewalt, Band 1: Was Gewalt aus Kindern machen kann“ erschienen ist. Es handelt sich um eine kleine Auflage und war zunächst für meine Arbeit bei meinen Patienten gedacht. Inzwischen ist es aber auch bei Libri und im Internet erhältlich. Rezensionen habe ich bundesweit von Flensburg bis München (z.B. Süddeutsche Zeitung) in allgemeinen Zeitungen, Zeitschriften und auch in der Fachpresse (z. B. Deutsches Ärzteblatt) erhalten, manchmal leider verfälscht. Es ist ein schwieriges Thema und nicht wirklich beliebt. Ich stoße auf viele Vorbehalte und habe nicht gerade offene Türen eingerannt, weder bei meinen Patienten noch bei meinen Kollegen.
Ich hoffe, mein Buch macht Ihnen Freude, nicht im Sinne von Spaß haben, sondern weil es Ihnen zeigen soll, dass es auch im medizinischen Bereich inzwischen Leute gibt, die sich der Kindheit ihrer Patienten unbeschönigend annehmen möchten.
Und nochmals „Danke!“, denn auch mir machen Sie Mut!
Liebe Grüße
Anke Diehlmann
AM: Vielen Dank für Ihren Brief. Ich bin gespannt auf Ihr Buch, werde es lesen und Ihnen dann schreiben, wie ich darüber denke. Ihre Beobachtungen decken sich ja weitgehend mit denen, die wir auf dieser Seite machen: Angst vor der eigenen Wut und den Vorwürfen, Erwartung neuer Bestrafungen und jede Menge von Selbstbeschuldigungen – alles Folgen von mehr oder weniger schweren Misshandlungen.