Die geschrumpfte Empathie
Sunday 04 June 2006
Liebe Alice Miller,
Ihr Hinweis auf die Beschneidung als Verehrung der Eltern und der Tradition (im Brief an M.G.) ist ein „Volltreffer“.
Als Person jüdischer Abstammung kann ich es „ bezeugen“ dass ein Kind (ich) völlig ausgesetzt ist an die Eltern und ihre „Mitgläubigen“ was diesen Brauch angeht. Die stehen tadellos da und lassen ihren Kindern eine Verstümmelung zufügen, nur weil dies von den Eltern und der Tradition verlangt wird.
Vor einigen Jahren hörte ich in der BBC einen Rabbi aus England sagen, dass der Schrei eines (jüdischen) Kindes bei der Beschneidung gar kein Schrei des Schmerzes ist, sondern ein Schrei des Jubels über die weitergegebene Verheißung zwischen Gott und seinem Volk durch das Kind.
Was sollen wir mit diesen Menschen tun?
sf
AM: Wir haben keine Macht über diese Menschen und können ihnen nicht verbieten, ihre grausamen Verdrehungen zu verbreiten, leider. Aber es ist gut, dass Sie diese empörenden Aussagen hierher geschickt haben, damit bewusste Menschen, die hier lesen, realisieren, wie diese Mechanismen der Menschenverdummung mit Hilfe der Verstümmelung des Säuglings funktionieren. Es wird ja dabei nicht nur der Körper, sondern auch der Verstand verstümmelt. Denn die Verletzungen in der frühen Kindheit, deren Schmerzen unterdrückt werden mussten, produzieren im Erwachsenen genau diese “Blüten”, die Sie zitieren.
Die kleinen Babys, deren Schmerzen ignoriert und geleugnet, deren Leiden als göttliche Botschaft bezeichnet wurden, wachsen nämlich später zu Rabbinern auf, die diese Lüge unter tausenden von Gläubigen verbreiten und die sich und andere ermutigen und dazu autorisieren, ihren Nachwuchs auf Schwerste zu verletzen, ohne sich um die lebenslangen Folgen dieser Verletzungen im geringsten zu kümmern. Diese Menschen sind sogar stolz auf ihr Tun, wie kleine Kinder, die den Befehlen ihrer Väter kritiklos folgen und dafür “Liebe” bekommen.
Nicht nur im Falle der Beschneidung führen Verletzungen im frühen Alter zur Verstümmelung der Denkfähigkeit und zur Schrumpfung der Empathie. Die einst erhaltenen Schläge, deren Schmerzen verleugnet werden mussten, führen nicht nur zur Wiederholung der Verletzungen am eigenen Nachwuchs, sondern auch zum erstaunlichen Mangel an Einsicht in die wahren Zusammenhänge. Im Falle des Amokläufers am Berliner Hauptbahnhof im Mai 2006 berichteten die Journalisten in den Zeitungen über die absolut “unverständlichen”, “mysteriösen” Motive des 16- jährigen Jungen. Als ob es nicht vollkommen klar wäre, dass dieser Junge seine Wut auf die ihm zuteilgewordene Behandlung im frühen Alter vor Jahren in sich gespeichert und niemals über diese reflektiert hat. Er wurde ja als nett und hilfsbereit bezeichnet, also waren seine wahren Emotionen jahrelang vollkommen unterdrückt. So genügte ein geringer Anlass, um die hemmungslose Wut auszulösen. Doch niemand will etwas davon wissen, weil das Thema Kindheit immer noch Tabu ist und das Schlagen der Kinder weiter als Erziehung bezeichnet wird. Dass damit Zündbomben produziert werden, wollen nur sehr wenige Menschen wissen.