Dem Körper entfliehen?

Dem Körper entfliehen?
Friday 08 September 2006

Liebe Alice Miller,
ich möchte Ihnen gerne mitteilen wie es mir nach Ihrer Antwort auf mein Schreiben vom 26.03.06 (DIE LIEBE DEM KLEINEN MÄDCHEN GEBEN) ergangen ist. Ich bedankte ich mich für Ihre Zeilen. Natürlich vermisste ich auch eine Reaktion auf den ersten Teil meines Briefes, der für mich ebenso wichtig war. Aber ich wagte nicht nachzufragen wie Sie ihn auffassten. Die vermisste Reaktion löste plötzlich wieder alte Angstgefühle aus. Ich fühlte mich wieder so, wie ich mich als Kind gefühlt hatte, abgelehnt, durch Schweigen abgestraft, die mildeste Form von Verachtung, um mir zu zeigen, dass das ich und was ich denke nichts wert ist, falsch ist, Abwertung verdient. Ich schämte mich…Auf der körperlichen Ebene hatte ich fürchterliche Panik, Angstgefühle von Vernichtung. Diese Gefühle
blockierten dann den für mich so wahren Teil Ihrer Antwort. Sie gaben mir den Schlüssel für meine Tür, den ich eigentlich auch schon so oft in der Hand hielt…Denn ich konnte nicht sehen und wahrhaben, dass ich noch immer unbewußt meinem Vater Liebe zollte. Glaubte ich doch, ich habe ihn innerlich schon lange verlassen…
Als ich dann Ihre Antwort auf die vermisste Reaktion einige Tage später auf einen Leserbrief laß (EIN AUFGEKLÄRTER MEDIZINER, 5.4.06), der sich auf meinen Brief bezog, musste ich bitterlich weinen, weil ich mir diesen Wunsch nicht erfüllen konnte…Er tat etwas, was ich gern getan hätte – nachfragen…Ich ahnte zum erstenmal Normalität, Menschlichkeit, dass es so etwas gibt. Für jemanden der es gewohnt ist, sich angstfrei zu äußern, sich selbst zu leben, mag das lächerlich anmuten…Aber ich habe als Kind das niemals dürfen, ich kenne nur Überlebensangst, verstecken, verleugnen…

Die einzige und wirkliche Hilfe bzw. Unterstützung erfahre ich durch ihre Bücher und Ihre Internetseiten. Die vielen Leserzuschriften und Ihre so klaren anteilnehmenden Antworten geben mir immer wieder Orientierung. Ich lerne neue „Vokabeln“ dazu. Es ist so als würde ich das was ich weiß, denke, sehe in Farben und Bildern endlich auch benennen können. Ich lerne eine Sprache, auf dem Weg zum mündig werden. –

Was mich sehr quält, ist die Überwindung vor der Angst meinen entstellten Körper endlich anzunehmen. All meine Ängste und seelischen Verkrüppelungen konnte ich bis vor 1 1/2 Jahren hinter einem hübschen, freundlich lächelndem Gesicht unter üppigen Haaren verstecken, meiner Maske. Aber auch diese Maske als für mich einzige Möglichkeit, als Brücke in eine normale Welt, habe ich zerstört. Es ist nichts übrig geblieben…Es tut so weh. Ich bin plötzlich gealtert und habe eine chronische Dermatitis im Gesicht zurückbehalten. Ich schäme mich so und möchte mich nur noch verstecken und gehe nur noch unter Menschen wenn es sich nicht vermeiden lässt (Büro und Einkaufen). Ich meide jeden Spiegel nur damit ich nicht hineinsehen muß…Ich kann diese Schuldgefühle und den Schock noch immer nicht auflösen. Manchmal überfällt es mich in großer Verzweiflung, dass ich mir mit den Fäusten ins Gesicht schlage, manchmal habe ich blaue Flecken…Ich habe dann nur noch den einen Wunsch, diesem Körper zu entfliehen, endlich raus aus diesem Körper…Ich fühle mich als Versagerin. Gerade jetzt bräuchte mein Körper Beistand. Aber plötzlich so verändert zu sein, das kann ich kaum aushalten…Wie soll ich diesen Körper lieben, mit ihm in Kontakt treten, den ich so abstoßend finde?…
Immer dann, wenn sich wahrscheinlich starke Emotionen oder Gefühle melden, reagiere ich mit Selbsthass, weil ich mir nicht verzeihen kann, kommen Suizidgedanken, Ablehnung meines Körpers, starke Depressionen und ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass ich am wirklichen Leben teilhaben werde, das ich Glück und Lebensfreude erleben kann, dass ich mich mit anderen Menschen wohlfühlen kann… Dieser Mechanismus schützt meine Eltern…
Wenn ich versuche dagegen aufzubegehren, dann melden sich Ohnmachtgefühle, mir wird schwindelig, als könnte ich ins bodenlose Fallen, Panik und Verzweiflung überfallen mich, machen sich in mir breit. Ich habe solche Furcht, dass ich dann den Verstand verliere, es mir den Atem raubt, dass es das Absurdeste überhaupt ist mich zu spüren. Ich habe Angst, dass ich etwas ganz grausames in mir entdecke, das ich nicht aushalten kann, dass ich mich nur umbringen kann, meine Scham, meinen ekligen Körper, das es mich gibt, dass ich einen Willen habe, dass ich es unwert bin zu leben, ich bin dumm, verstehe nichts. Einfach nur leben zu wollen, Lieben zu wollen, der Wunsch auf eine eigene Seele ist so absurd, wofür es keine Rechtfertigung gibt… Das ist ein schrecklicher Automatismus…der zuschnappt wie eine Falle.

Die erstickende Isolation meiner Kindheit, ist noch immer stark präsent um mich herum, ich kann dieser Atmosphäre noch nicht entkommen…Ich sehe mich als 6jährige fast immer ganze Nachmittage bis zum späten Abend in dem Haus meiner Eltern allein. Ich fühle mich eingesperrt. Die großen Fenster vom Wohnzimmer in den Garten machen mir Angst, weil es keine Gardinen gibt um bei Dunkelheit den Blick ins Haus zu schließen. Ich bin wie angewurzelt, ich kann nichts machen außer Lesen. Durch die Trennung meiner Eltern besitze ich kein eigenes Zimmer mehr, keinen Raum in dem ich mich zurück ziehen kann, der mein Reich ist, der mich schützt, den ich gestalten kann. Mit 6 Jahren beginne ich die alten Märchenbücher von meiner Großmutter in altdeutscher Schrift zu lesen. Nach einer Buchseite hatte ich dann alle mir unbekannten Buchstaben entziffert und dann ging das Lesen schnell. Irgendwann nahm ich mir auch die Erwachsenenbücher vor. Ich hatte nichts anderes. Ich musste meinen Geist beschäftigen. Wenn meine Mutter nach Hause kam, standen wieder ihre Probleme im Vordergrund ich musste ihr zuhören, wie eine Mutter, Partner…Über das was ich erlebt habe, was mir auf dem Herzen lag, war nicht relevant, oft sie gelacht, es abgewertet, oder meinte, du spinnst, …
Mein Vater hatte dann oft in unserer Abwesenheit das Haus beschädigt, ansägte Rohrleitungen, kaputtes Dach, lose Fensterbretter, überall aufgedrehte Wasserhähne, selbst im Garten, ausgeräumte Schränke…Laute verbale Attacken und Streits meiner Eltern folgten darauf. Als ich eingeschult wurde gab es keine Feier für mich, ich war mit meiner Mutter allein, niemand aus der Familie kam. Mein Vater hielt mich sowieso für die Schule zu dumm…Wenn Besuch kam, dann nur zu meinem Vater und seiner neuen Frau um ihr Baby zu bewundern, niemand schaute nach mir, ich blieb versteckt im Zimmer…Geburtstag hatte ich auch nicht mehr…
Ich erinnere mich als 7jährige an eine Kaffeerunde im Garten meines Onkels mit seiner Frau, dem Bruder meines Vaters. Mein Vater und seine neue Frau hatten mich mit genommen, meine Großmutter war ebenfalls da. Ich spielte allein nahe auf dem großen Klettergerüst im Garten. Ich bin ganz oben und falle ca. 2 Meter herunter und lande auf dem Rücken. Ich kann nicht gleich aufstehen vor Schreck und bringe kein Wort heraus. Mir eilt niemand zu Hilfe, obwohl es alle gesehen haben, der Bruder meines Vaters ist Arzt. Man unterhält sich weiter… Ich gehe an den Kaffeetisch und kann immer noch nicht sprechen…Niemand fragt mich… mein Rücken tat weh…
Meine ganze Sehnsucht damals war zur Familie gehören zu dürfen. Aber ich gehörte nicht dazu. Ich wurde immer mit abweisenden Blicken oder verbal abgestraft oder keines Blickes gewürdigt. Ich gehöre nirgends wirklich dazu und kann mir auch nicht vorstellen, dass sich jemand meine Nähe wünschen könnte…Ich war immer allein. „Liebe“ tut weh, seelisch und körperlich, Leben ist anstrengend, eine Last die erschöpft… Und ich kann nicht glauben, dass es wirkliche Liebe gibt… In dieser Zeit hatte ich das erste Mal das Gefühl, dass es besser ist nicht mehr zu leben. Ich wollte nicht mehr leben. Ich sah ein Bild mit einem verwitterten Sandstein, von Regen schwarz, ohne Schriftzüge, ringsum ganz grünes Gras…So stellte ich es mir vor, wenn ich nicht mehr bin…Das machte mir keine Angst…Erst als Erwachsene ist mir aufgefallen, das es da niemanden an dem Grab gab, kein einziges Lebewesen war da…

Mein Vater hatte eigentlich Angst vor mir, vor mir und meinen Gefühlen, vor meiner Unschuld und Lebendigkeit. In meiner Familie geht man aneinander vorbei und tut so als ob man sich nicht sieht, als ob man sich nicht kennt. Nur um nicht miteinander in Kontakt zu treten. Jede Freundlichkeit oder Aufmerksamkeit ist nur gespielt, gut antrainiert… Man möchte auch niemand anderen wirklich kennen. Oder wenn man jemanden kennt, möchte man nicht erkannt werden. Man kann nicht ungezwungen auf Menschen zu gehen, sich mit ihnen unterhalten…Mein Vater und sein Bruder wirken fremd, irgendwie komisch, arrogant, verklemmt… Sie verstecken das hinter einer freundlichen Maske. Und das macht einem Kind Angst, große Angst, oder?

Ich habe oft Erinnerungen, eher Ahnungen, diffuse Bilder, Sinneseindrücke, dass mein Vater mich als Baby, manipuliert und mit ihm sexuelle Spielchen getrieben hat… dass er mich hoch in die Luft warf und „Ball“ mit mir spielte…dass er in verletzenden primitiven Ton mit mir sprach… Er hat mich oft geängstigt, mich für dumm erklärt, bewußt irritiert, veralbert, mich lächerlich gemacht… Ein Traum verfolgt mich seit ich 20 bin, weil ich nichts sehe, alles ist schwarz. Ich habe Angst und rufe ganz verzweifelt meine Mutter, immer wieder, aber ich kann nichts sehen… Ich weiß nur dass ich große Angst habe. Dann wache ich auf. Ich spüre dass er für mich sehr ernst und wichtig ist… Kann ich diesen Bildern trauen, dass sie etwas wahres sind?

Das alles ist für mich Wahnsinn, den ich allein kaum fassen kann. Aber es liegt doch alles auf der Hand und ich habe das Gefühl ich verhalte mich wie eine „Analphabetin“?

E.B

AM: Sie schreiben:
„Ich habe oft Erinnerungen, eher Ahnungen, diffuse Bilder, Sinneseindrücke, dass mein Vater mich als Baby, manipuliert und mit ihm sexuelle Spielchen getrieben hat… dass er mich hoch in die Luft warf und „Ball“ mit mir spielte…dass er in verletzenden primitiven Ton mit mir sprach… Er hat mich oft geängstigt, mich für dumm erklärt, bewußt irritiert, veralbert, mich lächerlich gemacht… Ein Traum verfolgt mich seit ich 20 bin, weil ich nichts sehe, alles ist schwarz. Ich habe Angst und rufe ganz verzweifelt meine Mutter, immer wieder, aber ich kann nichts sehen… Ich weiß nur dass ich große Angst habe. Dann wache ich auf. Ich spüre dass er für mich sehr ernst und wichtig ist…
Kann ich diesen Bildern trauen, dass sie etwas Wahres sind?“

JA; es bleibt Ihnen keine Wahl, als all diesen Erinnerungen zu glauben. Sie dürfen Ihrem Körper nicht davon fliehen, sonst würden Sie das mit dem kleinen Mädchen wiederholen, was Ihre Eltern getan haben, als sie es so oft verlassen und misshandelt haben. Ihre Haut erzählt Ihnen jetzt Ihre Leidensgeschichte, hören Sie ihr zu, verweigern Sie sich ihr nicht, wie die Eltern es mit ihrem Kind getan haben. Nachdem Sie so viel gequält wurden und immer noch in Illusionen lebten, beginnen Sie jetzt, sich die Wahrheit zu gönnen, die Dunkelheit aufzuheben, mit dem Kind in Kontakt zu kommen und die Eltern zu sehen, wie sie wirklich waren. Vielleicht liegt noch ein langer Weg vor Ihnen, aber ich zweifle nicht daran, dass die chronische Dermatitis sich auflöst, wenn Sie es eines Tages wagen, zu sehen, wie Ihre Eltern mit Ihnen umgingen und wie schrecklich Sie darunter gelitten haben. Sie sind auf dem Weg dazu, geben Sie die Suche nicht auf. Wir leiden an Symptomen nur so lange, wie wir das Verhalten unserer Eltern wiederholen, um sie zu schützen. Wenn wir anfangen, unseren Körper und unsere Seele zu lieben, haben wir auch die Gesundheit wiedergewonnen. Ich habe keinen Zweifel, dass Sie es schaffen, nach allem, was Sie geschrieben haben.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet