Sie sah NICHT das gequälte Kind

Sie sah NICHT das gequälte Kind
Thursday 18 February 2010

Liebe Frau Miller,

Sie schrieben (09.02.2010), dass meine Mutter meine Seele umbringen WOLLTE.

Doch wenn sie mich schlug, meinte sie wirklich MICH?

Aber sie sah mich doch gar nicht, sie spürte mich gar nicht, sie nahm mich nicht wahr als einen Menschen, als Persönlichkeit, als ein fühlendes Wesen. Sie nahm nicht einmal wahr, dass sie jemandem weh tat, dass sie jemandem Angst machte.

Ich weiß nicht, was ich für sie gewesen bin.

Konnte sie dann meine Seele bewusst umbringen WOLLEN, wenn sie mich nicht sah und in Wahrheit nicht mich meinte?

Was wollte sie vernichten?

Ich war ein lästiges Etwas, ein Objekt, an dem sie all ihren Zorn abreagieren konnte. Ich machte nur Dreck und Arbeit, mehr war ich nicht. Ich war nichts, ein Niemand, nichts, worauf sie hätte Rücksicht nehmen müssen.

Sie sprach mich oft in der dritten Person an, damit sie nicht spüren musste, dass ich ein fühlendes Wesen war, dass ich jemand war, damit sie nicht merken musste, was sie tat.

Sie konnte leichter zuschlagen, musste kein Gewissen haben, wenn sie mich als keinen Menschen sah.

Sie meinte ihr Leben, sie meinte ihre Mutter, wenn sie schlug, nicht mich.

Konnte sie MICH da umbringen wollen?

Wen wollte sie umbringen? Nicht ihre Mutter?

Ich durfte sie nicht einmal ansehen, nicht sie meinen, wenn ich sie ansah. Sie krallte ihre Fingernägel in mein Gesicht, drehte meinen Kopf zur Seite und fauchte: „Glotz mich nicht so blöde an, du blöde Kuh! Glotz die gefälligst woanders hin?“

Sie ließ keinen Kontakt, keine Verbindung zu, damit sie mich nicht sehen, damit sie mich und sich nicht fühlen musste, damit sie sich weiterhin an mir, dem Objekt, abreagieren konnte.

Als wir Kinder ihr eines Tages sagten, dass wir Angst vor ihr hätten, lachte sie schallend!

Nein, sie tat nichts, was uns Kindern Angst machen könnte, es lag an uns, wir nahmen da etwas falsch wahr. Wir waren die dummen Kinder, die das nicht richtig verstanden.

Nein, sie hatte absolut keine Vorstellung davon, dass sie etwas tun könnte, was uns Angst machte. Keine Sekunde verschwendete sie darauf, zu sehen, ob sie nicht doch etwas tat, was Angst machte. Nein, sie war in Ordnung, was sie tat, war in Ordnung, sie war zweifellos die „gute Mutter“, die Kinder waren die „Dummen“.

Sie realisierte nicht, dass sie schlug, dass sie weh tat, dass sie in anderen etwas auslöste. Sie stritt es ab, sie merkte es gar nicht.

Wie blind war sie, wie tot war sie?

Sie wollte etwas vernichten, aber nicht wirklich mich. Sie wollte verhindern, dass sie sich hätte spüren müssen, darum ließ sie ihre Kinder keine Menschen sein. Es hätten Kontakte entstehen müssen, sie hätte sich in Frage stellen müssen, es hätten Gefühle entstehen müssen, in ihr und ihren Kindern gegenüber.

Das ist es, was sie abtöten, was sie vernichten, was sie verhindern musste, um jeden Preis: Dass eine menschliche Verbindung entstand zwischen ihr und ihren Kindern.

Deshalb stahl sie meine Gedanken, meine Gefühle, ich durfte sie nicht haben, weil diese für sie gefährlich waren.

Ich war hier eine Bedrohung für sie.

Ihre Botschaft hieß: Du sollst nicht denken, du sollst nicht fühlen, damit du mich nicht dazu bringen kannst, zu realisieren und zu fühlen.

Sie wollte auch mich tot machen, damit sie tot bleiben konnte.

Wollte sie doch meine Seele töten, meinte sie doch mich?

Nicht ohne Grund hat sie wegen einer nichtigen Begebenheit den Kontakt zu ihren erwachsenen Kindern abgebrochen. Sie konnte sie nicht mehr kontrollieren in ihrem Denken und ihrem Fühlen, sie konnte sie nicht mehr schlagen, nicht mehr klein halten.

Sie wich damit aus, vor Fragen, vor Kritik, vor Auseinandersetzungen, davor, sich selbst in einem anderen Licht sehen zu müssen.

Wenn sie mich als Kind, als Mensch nicht lieben konnte, dann konnte sie mich auch nicht hassen, weil sie mich gar nicht sah, weil es mich nicht gab, für sie. Sie hasste mich nicht als Mensch, sondern als die Bedrohung, die sie in mir sah.

Eine Bedrohung für sie, weil sie sonst hätte sehen müssen, wie grausam sie gewesen ist.

Oder denke ich nur so, weil ich nicht sehen, weil ich nicht spüren will, dass sie mich als Menschen meinte, mit ihrem Schlagen? Weil ich nicht sehen will, dass sie meine Seele töten wollte, weil sie wirklich mich meinte?

Will ich damit verdrängen, wie es wirklich gewesen ist?

Ich erinnere mich an keine Sekunde, wo sie wirklich mich gesehen und gemeint hat. Ihre Kinder waren keine Menschen für sie, ich weiß nicht, was wir waren.

Liebe Grüße U.S.

AM: Sie haben recht, Sie meinte nicht Sie. Sie sah in Ihnen niemals die Person, die Sie waren, wenn sie Sie hätte sehen KÖNNEN; hätte sie Sie nicht umbrigen wollen. Ein Krimineller sieht in seinem Opfer nicht die Person, die er quält oder umbringt. Wenn er dies könnte, würde er seine Taten nicht begehen. Er ist getrieben von seinem unbewussten Hass auf seine Eltern oder andere Primärobjekte und vervolgt die Sündenböcke. Ich las kürzlich über einen Serienkiller, der hunderte von Frauen umgebracht hatte und erst als er den “Mut” hatte, seine Mutter, deren Blick ihm furchtbar angst machte, im Schlaf umzubringen, mit seiner kriminellen Tätigkeit aufhörte.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet