Erziehung als Machtkampf

Erziehung als Machtkampf
Monday 22 June 2009

Sehr geehrte Frau Doktor Miller,
“die wollen mich schon wieder zwingen mit (…) zu spielen“ erzählte mir mein Sohn weinend, als ich ihn aus dem Kindergarten abholte. In seiner Verzweiflung vertraute er sich meinem Mann an, der ihm riet “es doch
noch einmal zu versuchen“. Auch das “Verzeihen“ und “Verstehen“ üben, wir erkennen es kaum als ein solches, weil diese Verwirrung so früh anfing, das wir es selbst verinnerlicht haben.
Mein Sohn weinte, wurde wütend und fühlte sich noch schlechter, er kam zu mir und wollte Rat, wie leicht hätte ich ihn verwirren können! Ich fragte ihn, ob er den Erzieherinnen schon einmal gesagt hätte, mit wem sie zu sprechen hätten und mit wem nicht. Er hielt erstaunt inne und meinte “nie“. Daraufhin fragte ich ihn, wie diese
Frauen denn darauf kämen ihm vorzuschreiben, mit wem er zu spielen hätte, er würde das doch auch nicht tun.
Das schien ihm logisch, er hörte auf zu weinen, die Wut verschwand und dann sagte er mir den Grund, warum er dieses Mädchen mied. Sie würde ihm häufig Dinge wegnehmen und schlagen, deshalb “mag er sie nicht mehr“.
Würde eine Erzieherin die anderen schlagen bzw. ihre Sachen wegnehmen, dann würden die auch nicht mehr mit ihr sprechen oder zu tun haben wollen, versicherte ich ihm. Das ist dein Recht zu entscheiden mit wem du spielen möchtest und mit wem nicht, niemand darf dir da Vorschriften machen. Danach lief er zu meinem Mann und sagte, dass “ihm die Mutti einen viel besseren Rat gegeben hätte“.
Mein Mann hatte dann Wut auf mich, die Erzieherinnen ebenso, weil ich ihm sagte er solle sich auf mich berufen ,wenn “sie ihn wieder zwingen wollen zu (…)“.
Kinder möchten gemocht werden, von all ihren Bezugspersonen, aber sie haben ihre eigenen Gefühle, die es erfordern, ihnen die Wahrheit zu sagen, auch wenn das nicht immer den Wünschen und Erwartungen der Menschen in ihrer Umgebung entspricht.
Es ist so wichtig, sie hierbei zu unterstützen und ihnen beizustehen, um den Mut und die Kraft zu finden, die sie benötigen, um die Angst und Schuldgefühle zu überwinden, wenn sie zu sich selbst und ihren eigenen Gefühlen
stehen wollen. Das ist für ein Kind eine sehr große Aufgabe und erfordert viel Ausdauer und Verständnis, auch von uns als Eltern, wenn wir ihnen beistehen und sie hierbei unterstüzen wollen.

Ich möchte dem Verfasser des Leserbriefes und auch Ihnen zustimmen, wir dürfen nicht vergessen, wie man uns als Kinder verwirrt und damit viel Leid angetan hat! Deshalb muß man Kindern die Wahrheit sagen, damit ihre
Gefühle ein sicherer Kompass für sie werden können, so das sie wissen was gut und richtig für sie ist. “Jenseits
der Tabus“ vermittelt Mut und Zuversicht das auch wir, als ehemals schwer misshandelte Kinder, es lernen können, das wir unseren Gefühlen und damit auch unserer Wut vertrauen können. Wut und Haß sind Bestandteil
eines gesunden Selbstschutzes, den auch wir (neu) erlernen können, als Erwachsene! ML

AM: Vielen Dank für Ihre schöne und so lehrreiche Geschichte. Die Erzieherin fragt nicht, weshalb Ihr Sohn nicht mit diesem Mädchen spielen will, sondern will ihm etwas gegen seinen Willen AUFZWINGEN. Weshalb? Weil sie vermutlich selbst mittels Zwang erzogen wurde und offenbar dies für einzig richtig und erfolgreich hält. So wird die Erziehung zum Kampf. Das Kind weinte, weil es sich gegen diesen Unsinn, den es SPÜRTE, nicht wehren durfte. Erst Ihr Verständnis gab ihm die Kraft zurück und bestätigte sein Gefühl, dass er unrecht behandelt wurde. Kinder werden zu „Problemkindern“ gemacht, wenn man sie verwirrt. Dann suchen die Mütter Ratschläge in Erziehungsbüchern, die zur strengeren Disziplin aufrufen, damit der Erwachsene nun eindeutig der Mächtigere bleibt. So kann man aus intelligenten Kindern von heute schwachsinnige Eltern und Erzieher von morgen kreieren, und die meisten merken nicht, wie das geschieht, weil ihre Körper nur eine Erziehung als Machtkampf kennen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet