Die Angst der Mutter

Die Angst der Mutter
Thursday 30 July 2009

Liebe Frau Miller,
es freut mich sehr und macht mich glücklich, dass Sie das Kind und den Zeugen und die Eltern in meinem Text sehen können.

Das Freu dich nicht zu früh, und das Wer glaubst du, wer du bist, haben mich zeitlebens zittern lassen. Sie haben mir Angst eingejagt, wo noch keine war. Die Sätze haben mich immer vor der Zukunft und einem möglichen glücklichen Moment niedergedrückt und abgehalten. Doch früher, in der Zeit als ich selbst noch nicht reden konnte, war es noch schlimmer. „Aber wer weiß, vielleicht kommt die Stimme der Mutter..“ Die Stimme kommt, aber das neue ist, dass ich sie verstehe, als das, was sie für mich ist, und immer war: eine Täuschung. Eine Täuschung, die meine Haut und meine Arme und Beine täuscht, die mich täuscht und mich enttäuscht, die mir niemals die Wahrheit gestattete. Niemals zu wissen, noch bevor ich reden konnte, wer ich bin, was ich fühle.

Meine Mutter erschrak bei jedem Ton, bei jedem Laut, bei jeder neuen Situation, bei allem, das sie, mit mir allein im Hause, tat und hörte. Sie schreckte auf und schrie und sagte pscht und horch und zitterte. Ich zitterte. Sie sagte, nichts, ich zuckte, und sie zitterte, ich weinte dann, sie sagte still und legte mich dann weg. Allein mit meiner Angst, blieb ich dann liegen. Sie sagte nie, sie habe Angst. Sie verleugnete stets die Angst. Und irgendwann bekam ich Angst vor mir. War ich das, der die Mutter schreckte, der alle Angst in ihr erweckte. Ja. Wer sonst. Da war doch niemand? Vor was hat der Junge denn eine solche Angst, hat einmal ein Lehrer meine Mutter gefragt. Und meine Mutter zuckte mit den Schultern. Ich hatte Angst vor allem, jedem Ton und jedem Laut, und gab mir selbst die Schuld dafür. Denn meine Mutter bezeugte nie, dass sie diejenige ist und war, die Angst hatte. Ich wurde für mich selbst zum Ängstlichen und zu einem Kind, das sich selbst Angst einjagte. Ich bekam es mit der Angst. Das erschreckte und alleingelassene Kind erschreckt sich schließlich vor sich selbst. Wie furchtbar, wenn es niemanden gibt, der dem Kind wenigstens in seiner Angst beisteht.

Wenn meine Mutter erschrak, sagte sie immer danach: Da war nichts.

Später sagte sie: Das bildest du dir nur ein!

Das sind die Sätze, die ein Kind verrückt machen und später an sich selbst und seiner Wahrheit zweifeln und verzweifeln lassen. Sie Frau Miller kennen das ja alles. Das Ausmaß aber. In wieviele Richtung die Täuschung geht, ist mir erst seit gestern völlig klar. Ihr Brief hat mir wieder ein Stück weiter geholfen.

Da täuschst du dich! Du täuschst dich!

Das ist es, was ich lernen musste unter Angst und mit der Angst. Zu täuschen. Mich. Das Kind wird immer wieder aufgefordert sich zu täuschen. Ich täuschte mich, selbst. Denn sie war die Herrin über wahr und falsch, über richtig und schlecht, und gut und böse. Dass das eine Lüge war und ist, was sie sagte, konnte ich nicht wissen. Das ist das Gespenstische, sie hatte die Macht über die Erinnerungen. Dass du schließlich nicht mehr wissen kannst, vor wem du mehr dich schreckst, vor deiner Mutter, oder dir selbst. Das Kind versucht verzweifelt aus der Täuschung eine Welt zu formen, in der es wenigstens etwas Sicherheit gibt.

Lügen, immer nur Lügen.

Das Kind traut seinen Augen nicht, weil es sich nicht trauen darf. Das Kind wird überredet, stumm gemacht, getäuscht. Das Kind darf sich nicht trauen, darf sich nicht mit seiner Wut verteidigen. Das Kind wird gleichgültig, sich selbst gegenüber und seinen Gefühlen gemacht.

Später, der Wiederholungszwang. Du täuschst dich immer wieder, das ist es, was du tust, mit wechselnden Bekanntschaften und Liebschaften, die immer gleich enden. Du tust, was du lernen musstest: Du versuchst dir unentwegt die Täuschung auszureden. Auszureden, dass dir etwas weh tut, dass dir jemand schadet. Tut nicht weh! Tut nicht weh! Du täuschst dich selbst, weil du das lernen musstest, dich selbst zu täuschen.

Liebe Frau Miller, ich versuchte immer wieder andere von meiner Wahrheit zu überzeugen, aber da war niemand, es schien keinen zu geben, der dem Kind glauben wollte. Und dann las ich ihre Bücher und ihre Antworten auf ihrer Website. Sie waren für mich der erste Mensch, der dem Kind, das ich einmal gewesen bin, seine Wahrheit gestattete und mir meine Wut beließ und sich für mich empörte. Sie forderten mich nicht zur Täuschung auf.

Die große Erleichterung für mich ist, dass ich heute weiß, wer ich bin, weil ich fühlen kann, was ich fühle. Vielleicht besteht meine größte Erleichterung und Befreiung darin, dass ich keine Angst mehr vor mir selbst habe und haben muss, dass ich keine Angst mehr habe, mich zu verletzen, mir wehzutun, mir selbst zu schaden. Dass ich auf mich achte, auf mich schaue, mich verteidige. Wer dem Kind die Wut versagt, verwehrt dem Kind, dass es sich verteidigen darf. Das verdanke ich dem Kind, das mir alles erzählt hat. Es hat mir allerdings erst von den Täuschungen erzählt, als es sicher war, dass ich von ihm niemals mehr enttäuscht sein werde und niemals wieder eine Täuschung fordere. Dass das Kind fühlen darf, was es fühlt, war die einzige Bedingung, die das Kind stellte. Das Kind musste sich sicher sein, dass es die Wahrheit sagen durfte und dass ein Erwachsener ihm traut.

Das, was das Kind dem Erwachsenen schließlich schenkt, ist sein Vertrauen.

Wenn Sie meinen Brief mit einem Link und Ihrer Antwort auf Ihre Seite nehmen würden, würde mich das sehr freuen. Sie helfen mir damit.

Ich grüße sie ganz herzlich

AM: Zu Ihrer Beschreibung der Angst Ihrer Mutter, die Sie übernehmen mussten, fällt mir mein Essay über Franz Kafka in “Du sollst nicht merken” ein. Wenn Sie das Buch besitzen, mag Ihnen diese Lektüre einen wichtigen Zeugen geben, der Ähnliches erfahren hat.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet