Die gute und die schlechte Wut
Wednesday 29 July 2009
Liebe Frau Miller,
ich habe, von Ihnen ermutigt, nun einen Text geschrieben. Beim ersten Lesen und korrigieren sind mir die Lügen aus der Kindheit wie in einem Zeitraffer gebündelt in den Sinn gekommen und das Gefühl der Überwältigung, dass wirklich keiner an meiner Seite damals war und nie da gewesen ist, wenn ich jemanden gebraucht hätte. Hinter den Lügen bin ich, das unschuldige Kind zum Vorschein gekommen, nur mit der Wut und dem Zorn bekleidet. Mein Schutz, mein Abwehrschild, mein Schreien, dass doch endlich jemand meine Bedürfnisse begreift. Mit Wut und Zorn wollte ich meine taubengraue leblose Umwelt zum Leben erwecken und scheiterte. Ohne die Wut und den Zorn kann kein Kind überleben.
Ich weiß nicht, wie mein Text auf andere wirkt, und ob er die Kraft in sich birgt auch anderen dabei zu helfen, sich mit der einst empfundenen Wut selbst zu bestätigen und somit zu erlösen. Mich hat der Text selbst immer wieder überrascht, wenn ich plötzlich sah, was ich alles weiß und was meine Hand alles schreiben kann.
Ihr Anstoß hat mir sehr geholfen; ihr Wissen um die Worte und ihr Gefühl für ihre freie Wahl.
Nun wollte ich Sie fragen, ob Sie den Text lesen mögen. Ob er Ihrer Meinung nach auch für andere hilfreich ist.
Ich grüße Sie ganz herzlich
AM: ich habe bis in die Nacht Ihren Text gelesen und konnte mich gar nicht von ihm trennen. Ich sah das Kind, hörte sein Schweigen, hörte die Eltern reden und fühlte die ganze Zeit die Anwesenheit des Zeugen, der das Kind verstand, begleitete und in Liebe umarmte. Es ist in meinen Augen ein wunderbarer Text, ich habe noch nie etwas Ähnliches über die eigene Kindheit gelesen, geschrieben mit so viel Mut, so viel Wärme und so viel Wissen, das einem nur das eigens Erlebte schenken kann. Dass Sie bei uns die Leser finden, denen der Text helfen wird, ist keine Frage. Ob Sie auch bei Verlagen offene Ohren finden, weiss ich nicht, ich kenne mich heute nicht mehr aus in diesem Betrieb. Doch dieser Text sollte unbedingt als Buch erscheinen. Was meinen Sie dazu?
Es würde mich interessieren, wie es Ihnen jetzt geht. Es ist Ihnen etwas Seltenes gelungen, und eigentlich müssten Sie eine große Erleichterung erleben. Aber wer weiss, vielleicht kommt die Stimme der Mutter, die sagt: Freu dich nicht zu früh, oder: Was glaubst du, wer du bist? Aber das kennen Sie ja bestens und werden damit fertig früher oder später. Ich gratuliere Ihnen jedenfalls zu diesem Erfolg