Sexueller Missbrauch

Sexueller Missbrauch
Thursday 19 April 2007

Liebe Alice Miller,

im Moment bin ich in meiner (tiefenpsychologischen) Therapie an einer sehr heiklen Stelle. Ich komme langsam an das Thema Missbrauch. Ich bin jetzt seit fast zwei Jahren in Therapie und vor ein paar Wochen habe ich mir Gedanken gemacht, wie das mit der Therapie weitergeht und was wohl noch so alles kommt.
Auch mein Therapeut fragte mich das. Ich habe mir lange überlegt, ob ich das Thema Missbrauch ansprechen will oder besser, überhaupt kann. Geht das mit meinem Therapeuten? Vertrau ich ihm soweit? Ich muss dazu sagen, dass nur sehr wenige Menschen davon wissen und die aber auch nicht, wie es genau war. Ja selbst in meinen Erinnerungen scheint es Lücken zu geben und vieles will ich auch nicht sehen.
Nach langem Überlegen dann habe ich meinem Therapeut gesagt, dass ich dieses Thema schon ansprechen will, ich aber nicht weiß, ob es geht. Das Schöne ist, das er mir so gar keinen Druck macht zu erzählen. Im Grunde habe ich noch kein konkretes Wort darüber gesagt und trotzdem habe ich das Gefühl dieses Thema zu „eröffnen“.
Seitdem aber habe ich oft eine riesige Angst vor den Therapiestunden. Oft ist es so, dass ich dieses Thema noch mehr verdränge als je zuvor. Ich schlucke es richtiggehend hinunter mit all den Tränen, die vielleicht geweint werden wollen. Weinen kann ich gar nicht.
Am Anfang meiner Therapie sollte ich eine Art Lebenslauf schreiben. In diesen Lebenslauf habe ich den Missbrauch mit aufgeführt. Ich habe erzählt von einer anderen Frau, mit der ich nichts zu tun habe, die nichts mit mir zu tun hat, die nicht zu mir gehört. Jetzt ist es so, dass ich innerlich einen Film sehe – eben diesen von dem ich damals erzählt habe und jetzt erkenne ich dieses kleine Mädchen, das dort vorkommt. ICH bin das! Plötzlich gehört dieses Ereignis zu mir, ist Teil von mir. Und ich fühle mich aufgelöst und zerstört. Ich habe Angst und weiß nicht vor was. Ich will brechen und ich kann nicht und ich presse alle diese Tränen weg.
Mein Kopf sagt zu mir: Du musst doch wegen sowas nicht heulen, das kann jedem passieren und anderen ist es noch viel schlimmer ergangen, also reiß Dich zusammen! Sowas kann doch ein Leben nicht so beeinflussen und durcheinanderbringen.
Warum ist das so? Warum will ich dieses Leid von diesem kleinen Menschen nicht sehen und sie sprechen lassen darüber?
Sobald es in der Therapie näher dahin kommt, mehr zu erzählen, verschließt sich alles. Ich schäme mich so. Ich fühle mich schuldig, ich würde mich am liebsten selber als Lügnerin hinstellen. Und was noch hinzukommt ist, dass ich manche Worte nicht in den Mund nehmen kann, mit denen ich das Erlebte beschreiben könnte. Ich ekele mich so und auch vor mir selbst.
Es ist als gäbe es ein Verbot darüber zu reden. Weinen darf ich schon gar nicht – ich kann auch nicht. Mein Therapeut fragte mich letzte Stunde warum ich nicht vor ihm weinen kann. Ich habe dann an früher gedacht, an meine Eltern. Mein Vater hatte so die Einstellung, wer weint ist ein Schwächling, weinen darf man nicht und bringt nichts. Meine Mutter hat nie reagiert, wenn wir geweint haben. Und hinzu kam, dass ja niemand wissen durfte, wie es in unserer Familie zuging, also konnte ich mich auch nie woanders ausweinen und musste immer die Starke mimen. Dann frag ich mich, ist es das?
Ich hatte dann einen Traum vor zwei Nächten, in dem mein ehemaliger Hausarzt meinte, dass ich mich einer dringenden OP unterziehen müsste und zwar in meinen Ohren, tief in meinem Kopf müsste er operieren. Ich wusste genau, wenn ich ja sage, muss ich schlimme Schmerzen aushalten. Es hat ewig gedauert, bis ich der OP zustimmen konnte, ich hatte richtige Todesangst. Dann ging es los: Mein Arzt füllte meine Ohren mit so einer Art Silikon, soweit dass alles verschlossen war. Der Druck in meinem Kopf wurde immer größer und größer. Es war ganz schrecklich und dann plötzlich löste sich eine Träne und kullerte an meinen Augenrand. Der Arzt nahm sie mit seinem Finger auf, zeigte sie mir und sagte: „Na da kriegen wir doch noch mehr raus, oder?“ Dann bin ich aufgewacht.
Heute wache ich auf und habe einen schrecklichen Schwindel und dadurch natürlich Panik (ich bin Panikerin). Eigentlich sollte ich in die Schule, aber ich konnte nicht. Ich saß da und musste weinen, nicht lang aber ich weinte. Ich habe dann beschlossen heute daheim zu bleiben. Ich hab mich ins Bett gelegt und es kamen Bilder von dem Missbrauch hoch. Ich konnte sie allerdings nicht festhalten, immer haben sich andere Gedanken davorgeschoben.
Jetzt im Moment bin ich irgendwie wieder ganz nüchtern, ich habe in solchen Situationen Angst, dass ich mich nicht ausreichend um mich kümmern kann und die Panik wieder voll zuschlägt.
Ich fühle, dass ich dieses Thema bearbeiten muss und dass ich es mir in der gegeben Situation auch vorstellen kann, aber da sind auch die anderen Gefühle und Gedanken, die mich manchmal fast verzweifeln lassen…

M.

AM: Habe ich das richtig verstanden: Sie haben vor zwei Jahren Ihren Lebenslauf geschrieben und dort Ihren sexuellen Missbrauch erwähnt. Wie haben Sie es geschafft, dass Sie zwei Jahre lang Ihren Therapeuten besuchten (und wie hat er es mit Ihnen geschafft?) und dass in diesen zwei Jahren ein so schreckliches Trauma und dessen Auswirkungen auf Ihr Leben mit keinem Wort erwähnt wurden? Was haben Sie denn in diesen zwei Jahren getan? Geplaudert? Können Sie mir erklären, weshalb Sie dies eine Therapie nennen? Was erwarten Sie von einer Therapie?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet