Schmerz und Leid

Schmerz und Leid
Saturday 29 December 2007

Liebe Frau Miller, vielen Dank für Ihre Ermutigungen, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Sie wissen allzugut, wie hoch die Widerstände sind. Aber ich kann Ihnen von einem sehr schönen Erfolgserlebnis berichten, das ich in den letzten beiden Wochen erleben durfte. Ich habe als orthopädischer Konsiliarius eine Unfall-Patientin mitbetreut, die seit fast 1,5 Jahren nach einem “Bagatell-Trauma” arbeitsunfähig ist und uns von der zuständigen gesetzlichen Unfallversicherung zugewiesen wurde. In dem Konsilbericht, den ich in der Anlage anonymisiert beigefügt habe, ist ihre Odysse beschrieben. Auch hier drohte eine Fortsetzung der Leiden, da mein neurologischer Kollege die Symptome als Simulation bestenfalls als Aggravation deutete. Ich habe ein Gespräch von 2,5 Stunden unmittelbar nach Aufnahme durchgeführt und gestern nochmals ein Konsil von einer Stunde mit klinischer Untersuchung. Zu meinem Erstaunen hat sich die vegetative Symptomatik des rechten Armes mit fast völliger Unbrauchbarkeit nahezu ganz zurückgebildet. Natürlich haben in unserer Klinik zusätzlich psychologische Einzelsitzungen in einem verhaltenstherapeutischem Setting stattgefunden, in denen nach Erlernen von Entspannungsverfahren Expositionen bei Gitterrosten(Balkon, Treppen), die angstbesetzt waren, durchgeführt wurden. Ich persönlich führe den Behandlungserfolg in erster Linie auf die Annahme des Symptomes als einzig mögliche Äußerung des erlebten Leides zurück. Auf Medikamente konnte völlig verzichtet werden. Ich freue mich sehr, Ihnen davon berichten zu können, da Sie an der Genesung der Patientin ganz wesentlich mitbeteiligt waren.
Ihr Dr. P. T.

AM: Vielen Dank für Ihren aufschlussreichen Bericht, den wir leider nicht publizieren können, weil ich der Meinung bin, dass er nicht an einem öffentlichen Ort wie bei uns erscheinen sollte, auch wenn die Patientin HEUTE damit einverstanden war. So will ich versuchen, die Geschichte kurz zu resümieren:
Eine Frau wird bei ihrer Tätigkeit an ihrem Arbeitsort von ihrem Kollegen angeblich “aus Versehen” 2-mal an der rechten Hand verletzt. Obwohl es keinen Knochenbruch gibt, leidet diese Frau 1,5 Jahre an starken Schmerzen, ihre rechte Hand ist unbrauchbar, sie verliert die Stelle und Unabhängigkeit, kann ihr Auto nicht mehr bedienen, wird von mehreren Ärzten in verschiedenen Kliniken “behandelt”, muss sich sogar 2 Operationen unterziehen, die nichts nützen, muss enorme Quantitäten von Schmerzmitteln schlucken und wird schließlich auch noch beschuldigt, Drogen genommen zu haben. Dies aufgrund einer Analyse, die sich als Irrtum erweist. Als sie um eine Entschuldigung bittet, wird ihr diese im barschen Ton vom Herrn Professor verweigert.
Nun kommt die Patientin nach dieser skandalösen Odyssee in Ihre Klinik, Sie bieten ihr ein Gespräch von 2,5 Stunden an und empfehlen ihr mein Buch, „Die Revolte des Körpers“ zu lesen. Sie fühlt sich endlich mit ihrem SEELISCHEN LEID von Ihnen ernst genommen, angehört und von meinem Buch verstanden und in zwei Wochen tritt eine deutliche Besserung (50 %) ein. Ich weiss nicht, was diese Frau Ihnen erzählt hat, ob sie irgendwie erkannt hat, dass ihre Toleranz für Grobheiten, Demütigungen und Ignoranz ihrer Not mit ihrer Kindheit zu tun hat, die sie dort hat erlernen müssen; ob sie endlich gegen den Kollegen rebellieren konnte, der sie verletzt hatte. Ich meine, dass eine vollständige Heilung und ein Dauer-Selbstschutz erst eintreten können, wenn die Patientin den Zusammenhang zwischen den Erfahrungen in der Kindheit und dem “Unfall” verstanden hat. Vielleicht hat das Buch ihr geholfen, einen Teil ihrer krankhaften Toleranz abzubauen. Unzählige Opfer von Misshandlungen in der Kindheit funktionieren genau so: Sie beschuldigen sich für das, was ihnen angetan wurde, und erlauben den Ärzten, an den FOLGEN der seelischen Verletzungen zu basteln, ohne die Ursachen sehen, ohne die Verletzung des Kindes und das Verbot, sich darüber zu beklagen, wahrnehmen zu wollen. Diese Geschichte zeigt, wie Menschen unnötig leiden müssen, wenn ihre seelischen Verletzungen in der Kindheit, deren Wissen im Körper gespeichert ist, sowohl von den Medizinern als auch von den Patienten selbst ignoriert werden. Wie Sie sehen, es genügte das lange Gespräch mit ihnen, damit sich der Körper von seinen Schmerzen befreien konnte, die nichts anderes als ein Hilferuf, ein Flehen ums Verständnis, waren. Ich bin sehr froh, dass Sie diese Zusammenhänge so gut verstehen können, und hoffe, dass Sie auch Ihre Kollegen an diesem Wissen teilnehmen lassen werden.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet