Unverhüllt
Saturday 27 February 2010
Sehr geehrte Frau Miller,
ich hatte Ihnen bereits im November geschrieben (Die Kultur des Redens), dass ich mit Hilfe Ihrer Bücher endlich in der Lage war, meine Wut gegen meine Eltern herauszulassen.
Doch in den letzten Monaten stelle ich fast schon mit Erstaunen fest, dass mit der Wut nach und nach eine tiefe schockierende Rechtseinsicht folgte: Es ist die klare Bewusstheit über die nackte Tatsache, dass meine Eltern STRAFTÄTER sind. Immer wieder habe ich in den letzten Wochen diesen Satz wiederholt:
MEINE ELTERN SIND STRAFTÄTER!
Sie haben sich des schweren sexuellen Missbrauchs gem. §§ 176ff, der schweren Körperverletzung gem. §§ 223ff, der Beleidigung gem. § 185, der Freiheitsberaubung gem. § 239, der Nötigung gem. § 240, der Bedrohung gem. § 241 und der unterlassenen Hilfeleistung gem. § 323c nach dem Deutschen Strafgesetzbuch schuldig gemacht. Und das in zahlreichen Fällen.
Obwohl ich Juristin bin und mit diesen Straftatbeständen ab meinem 21. Lebensjahr konfrontiert wurde, habe ich erst 18 Jahre nach meinem Studium die Kraft die Tatsache anzunehmen, dass meine Eltern SCHWERVERBRECHER sind.
Ich schreibe Ihnen damit nichts Neues, das weiß ich. Ich frage mich oft, wie Sie das all die Jahre ausgehalten haben, dass sich trotz Ihrer aufklärenden Bücher so wenig in der Familie/Gesellschaft verändert hat und die Verbrecher weiterhin geschützt werden. Mich macht das nach kurzer Zeit der Einsicht schon so wahnsinnig wütend.
Es gibt auch absolut nichts, was wir Betroffenen unseren Eltern (Tätern) verzeihen müssten, wie es immer wieder von uns gefordert wird. Einem Fremden würde ich die Taten auch nicht verzeihen, warum sollte ich sie meinen Eltern verzeihen? Im Gegenteil sogar, meine Eltern gehören dafür noch härter bestraft, denn sie haben ihre unglaublich mächtige Stellung als Eltern mir gegenüber auf das Schändlichste missbraucht.
Deshalb ist meiner Meinung nach der Satz Meine Eltern sind Straftäter und laufen frei herum! eines der großen Tabuthemen in der aktuellen Zeit. Im Rahmen der aktuellen Diskussion über den sexuellen Missbrauch in der Kirche stelle ich fest, dass kein Mensch den sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie anspricht. Und das, obwohl über 90 % der Missbrauchsfälle dort stattfinden.
Es ist ein erstaunliches Schweigen, das immer noch zu beobachten ist. Deshalb werde ich jetzt anfangen mich nach einem Verlag umzuschauen, der bereit ist diese Thematik in brisanter Form zu drucken.
Schön, dass es Sie gibt!
Herzliche Grüße, AE
AM: Ja, niemand kann Ihnen widersprechen, denn Sie haben recht. Aber die meisten Menschen werden schockiert sein, wenn Sie diese Wahrheit einfach so unverschleiert schwarz auf weiss lesen. Weshalb? Weil sie sehr früh als Kinder gelernt haben zu denken, dass ihre Eltern fehlerlos seien und dass jede Kritik gefährlich sein kann. Mit diesen Menschen haben wir jetzt zu tun, wir nennen sie “Gesellschaft”. Sie wollen nichts von dem wissen noch verstehen, was wir schreiben. Dennoch müssen wir es tun, in der Hoffnung, eines Tages die Ignoranz zu durchhbrechen. Ich bin froh, dass Sie sich diese Klarheit nun erlauben, und danke für Ihren Brief.