Ich bin „Gut“
Sunday 09 December 2007
Liebe Alice Miller, liebe Barbara Rogers,
heute will ich noch einmal schreiben, weil es immer wieder neues zu entdecken gibt in meinem neu entdeckten Leben. Manchmal kann ich es gar nicht gleuben, dass es möglich ist, mich so gut zu fühlen. Ich habe Ihnen bereits am 17.Juni 2006 und am 28. Juni 2007 geschrieben. Doch auch nach meinem letzten Schreiben bin ich mehrfach in tiefe Krisen gekommen, da ich durch ein Gutachten, welches immer noch nicht abgeschlossen ist, mich mit der Vergangenheit auseinandersetzen mußte. Es ging dabei um meine Glaubwürdigkeit, dass mein Ex-Mann mich fast getötet hätte, mich immer wieder vergewaltigt hat.
Die Gutachterin war einen ganzen Tag und einmal noch für ca. zwei Stunden bei mir. In einem Block ging es um meine Kindheit, im Zweiten um die Taten meines Ex-Mannes. Doch Dank Ihrer Arbeiten und der guten Begleitung durch meinen Therapeuten, der voll und ganz auf der Seite des Kindes steht, habe ich dieses, trotz der großen Belastung gut überstanden. Jetzt steht zwar noch das Gutachten aus medizinischer Sicht an, doch ich habe ein gutes Gefühl, dass das Gutachten zu meinen Gunsten ausfällt.
Je mehr ich darüber rede und die Verantwortung an die Täter abgebe, um so mehr gewinne ich meine Autonomie zurück, weiß ich dass meine Gefühle echt und in Ordnung sind.
Zum selben Zeitpunkt habe ich erkennen müssen, dass ich eine sehr gute Freundin an einen Psychokult verloren habe. Jedesmal wenn ich mit ihr sprach ging es mir schlechter, sie machte mich nieder und setzte mich unter Druck, dass ich nicht für sie da wäre. Ich zweifelte an meiner Wahrnehmung und ihr Verhalten löste sehr schlimme Erinnerungen an Missbrauchserfahrungen aus der Zeit bei meinem ersten Therapeuten aus. Es ging soweit, dass ich nicht mehr leben wollte. Ich zweifelte an meinem Verstand. Nur durch wiederholte Bestätigung durch meinen Therapeuten, dass ich mir vertrauen kann, meinem Körper vertrauen kann, ist es mir gelungen, in sehr kurzer Zeit, nachdem ich mich schriftlich von dieser Freundin distanziert habe, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Ich habe die Erfahrung machen dürfen, dass wenn ich auf meinen Körper höre, mir nichts passieren kann, dass es mir gut geht.
Manchmal denke ich es reicht, was mir durch meine Vergangheit (Herkunftsfamilie) aufgebürdet wurde. Doch wenn ich gerade mit dem totalen
Kontaktabbruch auch zu meinen Geschwistern glaubte abgeschlossen zu haben, meldet sich meist mein Bruder bzw. dessen Frau, um mir wieder einmal über unsere Eltern zu berichten. Seit Mitte November weiß ich nun, dass meine Mutter schwer krank ist. Nach einer Darmkrebserkrankung vor zwölf Jahren, hat man ihr nun den halben Magen entfernt, Leber, Lunge und Lymphen haben Metastasen und die Ärzte geben keine Prognose mehr, wie lange sie noch zu leben hat. Meine älteste und meine jüngste Schwester kümmer sich wohl, mein
Bruder und meine schwägerin lehnen es ab, die Mutter zu pflegen. Meine Schwägerin sagte mir, dass meine Mutter mich wohl sehen will, sie aber angst hat, dass ich sie „niedermache“. Ich habe mir vorgestellt, dass ich sie besuche, doch ich habe es so stark gefühlt, wenn ich das tue, werde ich krank. Meine ganzen Wahrnehmungen, die ich immer wieder angezweifelt habe, wie z.B., dass meine Mutter nur die schule bis zum 5./6. schuljahr besucht hat,sich nie weitergebildet hat etc. haben sich bestätigt. Meine eltern haben mir und meinen Geschwistern unser
ganzes Leben vorgespielt, dass eltern immer Recht haben. Ich habe ihnen geglaubt, wie Kinder es nicht anders können. Mir ist klar geworden, dass meine eltern nicht wollten, dass ich mehr weiß, als sie. Aus diesem Grund haben sie mir nicht erlaubt, das Gymnasium zu besuchen und ich habe es nie gewagt, zu glauben, dass ich mehr weiß. Ich bin so wütend, weil sie mir eingetrichtert haben, ich sei ein böses Kind, weil ich mehr wissen wollte. Sie haben mich verraten und an den Nachbarn verkauft. Alles paßt und fügt sich auf einmal zusammen.
Ich habe mich endgültig entschieden, mich von dieser Familie zu distanzieren, ich werde meine kranke Mutter nicht besuchen, ich werde nicht zu ihrer Beerdigung gehen. Ich habe mich von eltern, wie ich sie verdient hätte, die mich beschützt hätten vor den Nachbarn, die mir Liebe gegeben hätten, etc. verabschiedet. Ich habe sie nie gehabt und werde sie nie bekommen.
Jetzt habe ich endlich das Gefühl frei zu sein, weil ich weiß, ich kann mir und meinem Körper vertrauen. Vor ca. zehn Tagen habe ich das erste Mal den Satz über die Lippen bekommen „ICH BIN GUT“. Dieser Satz fühlt sich so echt an, auf einmal zu wissen, ich bin nicht „BÖSE“, so wie meine Eltern es immer behauptet haben und wie ich es verinnerlicht habe. Dieser Satz begleitet mich seitdem, er gibt mir soviel Kraft und Energie, wie ich sie schon lange nicht mehr gefühlt habe.
Seit ich ihre Arbeiten kenne, liebe Alice Miller, hatte ich ja das Wissen, dass kein Mensch böse geboren wird, doch das Wissen reichte nicht, es fehlte noch etwas, nämlich das Fühlen. Erst jetzt fühle ich es in meinem ganzen Körper, es ist auf einmal alles so leicht und ich spüre eine Entspannung im Körper, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.
Ihr neues Buch „Dein gerettetes Leben“ ist für mich genau zum richtigen Zeitpunkt erschienen. Danke, A. J.
AM: Sie sind nicht nur gut, Sie sind ein ungewöhnlich starker, wahrhaftiger und kluger Mensch, der sich aus einem schrecklichen Elend herausgegraben hat und so viel Gutes schaffen konnte. Das spricht aus allen Ihren Briefen. Ich hoffe, dass Sie sich nie mehr von Ihrer Familie einreden lassen, dass Sie böse sind, nur weil Ihre verwirrte und bösartige Mutter es so haben wollte. Es ist wichtig, dass Sie weiterhin die Botschaften Ihres Körpers ernstnehmen und alles meiden, was ihn in Gefahr bringen würde. Ihre diesbezüglichen Entschlüsse sind absolut richtig.