Verzweiflung an der Heuchelei

Verzweiflung an der Heuchelei
Friday 25 August 2006

Liebe Alice Miller!

Ich habe schon mehrere Leserbriefe an Sie geschrieben und dabei im Nachhinein das Gefühl, dass dabei nur Kuddelmuddel herausgekommen ist, besonders, wenn ich die anderen Leserbriefe lese, die mir klarer erscheinen. Ich habe ein Problem damit, klar und deutlich zu schildern, wie mein Leben insbesondere meine Kindheit in meiner Familie verlief, was mich daran so kaputtmachte. Aber ich weiß es in mir drin so stark, dass diese Kindheit in dieser Familie ein Grauen für mich war. Dieses beeinträchtigt mein Leben immer noch, heute, mit 29 Jahren immens, ich bin psychisch extrem behindert. Ich habe solch eine starke Angst vor Menschen, dass ich mich total isolieren muß und bin extrem antriebslos, das war schon so, als ich noch ein kleines Kind war. Es gibt kaum eine psychische Störung, die nicht auf mich zutrifft, es wäre zu langwierig, dies alles hier aufzuzählen. Ich halte absolut keinen Kontakt zu meiner Familie aus, nicht einmal das Betreten der Stadt, wo ich aufgewachsen bin, ist erträglich. Ich bin, weil mein Vater einen guten Beruf hatte, finanziell abhängig von ihm, auch wenn ich in letzter Zeit es geschafft habe, mich weitestgehend durch Ämter unterhalten zu lassen, durch die Hilfe meines Freundes, der mich unterstützt in solchen Dingen. Meine Familie, Eltern und ältere Schwestern, sind sehr sehr gut darin, sich darzustellen als Menschen, die gutherzig sind und völlig in Ordnung, sie heucheln perfekt und kommen damit an. Meine Exfreunde und mein jetziger Freund können aber dennoch in etwa spüren, was in Wahrheit dahinter steckt. Das reicht aber nicht. Therapien scheiterten bisher, da die Therapeuten, wie Sie schon festgestellt haben, offensichtlich keine Absicht haben, an die wirkliche Wahrheit ihrer Patienten zu kommen, um dann auf deren Seite zu stehen. Ich halte es nicht mehr aus.
Meine Versuche, an Sie zu kommen, scheiterten für mich, da ich merkte, dass ich mich sogar von Ihnen nicht wirklich verstanden, sondern verstoßen fühlte. Bitte verzeihen Sie, denn ich weiß, dass ich Ihnen damit bestimmt unrecht tue, denn gerade Sie sind ja jemand, die sich gerade für das einsetzt, worum es mir geht. Es kann also nicht sein, was ich befürchte. Es kann einfach nicht sein, dass gerade Sie mir im Grunde vorwerfen, ich würde lügen, ect…Vielleicht ist mein Kuddelmuddel, dass bei mir herauskommt, oder besser sogar die Leere, die bei mir herauskommt, wenn ich versuche, mitzuteilen, was mit mir passiert ist und mich noch immer so dermaßen belastet, behindert, ja ein Spiegel der Heuchelei meiner Familie, die alles geheimhält, versteckt, und das sehr gut. Keiner kommt bei ihnen auf die Idee, bei einer Musterfamilie, dass dort so einiges im Argen liegt, dass es fiesesten sexuellen Missbrauch, psychischen Terror von der feinsten Sorte und körperliche Gewalt gibt. Vielleicht mache ich das selbst noch mit mir, ich lüge mir selbst etwas vor, indem ich immer noch immer wieder dran glauben will, an diese Lüge, es sei alles in Ordnung, es habe Liebe gegeben, Schutz und Wärme, ich heuchle mir selbst noch etwas vor, auch ohne realen Kontakt zu ihnen, wo es in Wahrheit keine Liebe gibt, nur geheuchelte. Das Heucheln ist es, was es mir doppelt schwer macht, sowohl, meine eigenen Illusionen abzubauen, als auch Hilfe zu erhalten von außen. Ich scheine eine Maske zu tragen, die sogar noch weiterfunktioniert, wenn ich schon versuche, die Wahrheit der Leiden in mir zu verdeutlichen. Dies scheint dann unergründbar und unglaubwürdig nach außen zu wirken. Ich kann auch nicht weinen, und im Gespräch mit dem einzige Menschen, den ich habe, meinem Freund, bin ich unecht und habe das Gefühl, Theater zu spielen, kein Wunder, dass dieser mich nicht für voll nimmt und dann doch ignoriert.
Ich sehne mich so sehr nach Echtheit und nach Gesehenwerden, nach Liebe, Wärme, nach Lebendigkeit, leben, etwas in dieser Welt beitragen zu können. Ich frage mich, wie ich den Knoten gelöst kriege. Ich habe Panik vor meinen Eltern, die jede Hilfe, die ich suche, wie Ärzte, Therapeuten, Ämter, in der Lage sind, um den Finger zu wickeln und mich als paranoid oder depressiv, schizoid, ect darszustellen, von Geburt an, wofür sie dann noch Mitleid erhalten, sowie auch Ausweinen meiner Mutter bei der Mutter meines Freundes, indem sie ihn anrief. Die Mutter meines Freundes war eigentlich für mich eine Frau, die ich mir als Mutter gewünscht hätte, mit der ich eine gute Beziehung hätte aufbauen können, aber selbst hier mischt sich meine Mutter ein. Und allein der hohe Beruf meines Vaters flößt zB beim Vater meines Freundes und auch ihm selbst so hohen Respekt ein, sowie sein anständiges Benehmen, er weiß halt, wie man sich beliebt macht. Ich fühle mich komplett allein. Ich habe Angst und weiß nicht, wie ich aus diesem Strudel jemals herausfinden kann. Es ist so fies von mir, aber ich erwische mich manchmal bei dem Gedanken, es wäre besser, sie sterben irgendwann, ich hasse sie. Aber ich hänge auch an ihnen innerlich, zweiteres ist mein innerer Feind. Aber die Umwelt ist auch mein Feind, diese Gesellschaft ist so intrigant und falsch, keiner scheint mehr an Echtheit und Liebe interessiert zu sein.
k

AM: Ihre Briefe sind keineswegs chaotisch, ganz im Gegenteil, sie sind sehr klar und einfühlbar. Ich könnte mir vorstellen, dass es gerade Ihre Klarheit war, die Ihren Eltern Angst machte und ihren Hass auf Sie weckte, weil sie auf ihre Fassaden offenbar total angewiesen waren und auf keinen Fall wollten, dass jemand ihre Masken der “liebevollen Eltern” durchschaut. Wenn Sie überleben wollten, hatten Sie keine Wahl, als sich der Heuchelei anzupassen. Sie beschreiben das sehr deutlich in den folgenden Worten:
“Vielleicht ist ….die Leere, die bei mir herauskommt, wenn ich versuche, mitzuteilen, was mit mir passiert ist und mich noch immer so dermaßen belastet, behindert, ja ein Spiegel der Heuchelei meiner Familie, die alles geheimhält, versteckt, und das sehr gut. Keiner kommt bei ihnen auf die Idee, bei einer Musterfamilie, dass ….es fiesesten sexuellen Missbrauch, psychischen Terror von der feinsten Sorte und körperliche Gewalt gibt. Vielleicht mache ich das selbst noch mit mir, ich lüge mir selbst etwas vor, indem ich immer noch immer wieder dran glauben will, an diese Lüge, es sei alles in Ordnung, es habe Liebe gegeben, Schutz und Wärme, ich heuchle mir selbst noch etwas vor, auch ohne realen Kontakt zu ihnen, wo es in Wahrheit keine Liebe gibt, nur geheuchelte. Das Heucheln ist es, was es mir doppelt schwer macht, sowohl, meine eigenen Illusionen abzubauen, als auch Hilfe zu erhalten von außen. Ich scheine eine Maske zu tragen, die sogar noch weiterfunktioniert, wenn ich schon versuche, die Wahrheit der Leiden in mir zu verdeutlichen”.

In dieser Rolle des Mitmachers scheint Ihr Leben blockiert zu sein. Sie weigern sich, Ihren Eltern zuliebe, das zu glauben, was Sie seit langem mit Sicherheit wissen, und dafür zahlen Sie einen enormen Preis, wie jeder Mensch, der sein Wissen verleugnet. Mit Ihrer “Sehnsucht” machen Sie sich etwas vor, das doch nicht mehr stimmen kann. Sie meinen, dass sie auch heute noch sterben müssten, wenn Sie zu Ihrer Wahrheit stehen würden und die Heuchelei Ihrer Eltern VOLLSTÄNDIG ablehnen würden. Aber diese (damals reale) Gefahr droht Ihnen heute nicht mehr.
Ihre Eltern haben heute so viel Macht über Sie, wieviel Sie ihnen geben. Wenn Sie sich eines Tages erlauben, Ihr Wissen voll und ganz ernst zu nehmen, werden Sie Ihre Freiheit genießen können und feststellen, dass niemand sie Ihnen wegnehmen kann. Vermutlich befinden Sie sich bereits auf dem Weg dorthin, denn Sie haben, wenn ich Sie richtig verstehe, mit diesem Brief festgestellt, dass Sie niemandem mehr geheuchelte Liebe und Blindheit schulden wollen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet