Angekommen

Angekommen
Sunday 17 January 2010

Liebe Frau Miller,
zunächst wünsche ich Ihnen noch ein schönes Jahr 2010!
Ich möchte meinen drei Briefen an Sie (meine E-mail-adresse hat sich geändert) noch einen weiteren hinzufügen.
Ich tue dies deshalb, weil eine Veröffentlichung vielleicht nützlich sein kann, wenn Sie dies auch so sehen sollten.
Ich habe nach meiner vollständigen Genesung oder besser gesagt Heilung der immensen seelischen Verletzungen meiner Kindheit und dem Beginn eines neuen, wunderbaren Lebens, einen letzten Brief an meine Eltern (bzw. die Leute, die ich früher mal als Eltern betrachtet habe) geschrieben und an diese abgeschickt und damit die innerlich längst vollzogene Trennung noch einmal dokumentiert, erstens weil ich von denen angeschrieben wurde und zweitens vollständigere, endgültige Klarheit für mich schaffen wollte.
Bevor ich Ihnen diesen Brief zur Kenntnis geben darf, auch heute noch einmal tiefempfundenen Dank für Ihr Wirken,
Ihre Bücher, Ihre Antworten, neben vielen anderen Dingen ist mir der Wert dessen, was ich durch Sie nutzbringend für mein Leben gelernt habe,mit den Jahren immer deutlicher bewußt geworden! Ich wünsche Ihnen und Ihrem Team alles erdenklich Gute!!

Hier nun der besagte Brief an die ehemaligen Eltern:

“Hallo,

ich hatte eigentlich nicht mehr vor, gegenüber meiner Herkunftsfamilie auch nur irgend etwas zu äußern, aber nach Eurer Australienpostkarte denke ich, dass es gut ist, abschließend reinen Tisch zu machen. Mir geht es jetzt ausgezeichnet. Ich habe die lange Phase meiner Genesung sowie beruflichen Veränderung auch dazu genutzt, mein privates Umfeld auf den Prüfstand zu stellen, jeden einzelnen Verwandten und Euch ganz besonders genau zu studieren. Dies hat mir im Verlauf der letzten Jahre wertvollste Erkenntnisse sowie Rückschlüsse auf die Art der Behandlung, die ich in dieser Familie seit meiner frühesten Kindheit erfahren habe, geliefert und meine wesentlichsten Erinnerungen an diese Zeit bestätigt. Ich sage zu keiner einzelnen Person speziell etwas, konstatiere aber die entscheidenden Fakten, die meine Kindheit und die meiner Geschwister (welche leider nichts begriffen haben) mehr oder weniger zerstört haben.
Ihr habt uns als Kinder regelmäßig verhöhnt, gedemütigt, ausgelacht, geschlagen, unterdrückt und ausgenutzt. Ich weiß, dass Ihr dies niemals zugeben werdet, weil Ihr es nicht könnt, Ihr habt ja nie realisiert, wie Eure eigene barbarische Kindheit Euch deformiert hat, das ist aber nicht mein Problem.
Ich habe im Alter von 8 Jahren schon beschlossen, Euch eines Tages aus meinem Leben zu entfernen, in einem Moment, als ihr genüsslich meine damals 6-jährige Schwester mit dem Teppichklopfer für irgendein geringfügiges, lächerliches Vergehen abgestraft habt. Ihr habt Euch an der Hilflosigkeit eines kleinen Kindes ergötzt und mich gezwungen, die entwürdigende und sadistische Szene zu beobachten. Den tiefen Hass auf solche Eltern musste ich in diesem Moment natürlich verbergen, er war seitdem versteckt und konnte sich erst in den letzten Jahren, wie so manch andere damals verdrängte Emotion, Bahn brechen.
Aber solche Szenen vergisst man niemals wirklich, auch wenn sie zeitweilig dem Bewusstsein nicht zugänglich gewesen sind!
Das war ja auch nur die Spitze des Eisbergs, meine ersten 5 Lebensjahre liegen im Dunklen, aber ich mache mir da keine Illusionen und weiß u.a. aus dem Verwandtenkreis, wie Ihr mit uns umgesprungen seid, später war es auch nicht wesentlich anders, wir hatten erst Ruhe, als Ihr auf Dauer beruflich ins Ausland ohne uns gegangen seid und an uns kein Interesse mehr hattet. Da waren wir 17; 15 bzw. 12 Jahre alt, zurück- oder besser sitzengelassen und mussten völlig auf uns allein gestellt in Internaten klar kommen, weil der Rest dieser angeblichen „Familie“ (Großeltern usw.) natürlich abgewunken hat (irgendwie logisch) und keine Verantwortung übernehmen wollte.
Die diesjährige Geburtstagskarte an mich aus Australien, wo Ihr Euch früher jahrelang (wie natürlich auch in der Zeit davor in den USA schon) ein schönes Leben auf Kosten Eurer Kinder gemacht habt, indem Ihr den früheren Demütigungen eine entscheidende Neue hinzugefügt habt, nämlich die des absoluten Desinteresses und des Wegwerfens auch des letzten Rests von Verantwortungsgefühls, würde ich als glatten Hohn empfinden, wenn es mich noch berühren würde, wahrscheinlich war es ja als Verhöhnung gemeint.
(Ganz nebenbei habt ihr als sogenannte „Diplomaten“ für die DDR auch den Rest der `dämlichen´ eingesperrten Bevölkerung verlacht und nur Euren eigenen Vorteil gesehen.)
Die friedlichen Momente, die es in unserer Kindheit sicher auch immer wieder gab (wir waren ja auf mustergültiges Verhalten dressiert, um Strafen zu entgehen und ab und zu Ruhe zu haben) wiegen nicht im Ansatz Eure Lieblosigkeit und Euren gnadenlosen Egoismus uns gegenüber auf.
Ich weiß, dass Ihr alle diese Schilderungen ablehnen werdet (deshalb habe ich mir weitere Einzelheiten erspart, das Gesagte reicht schon völlig) und mir u.U. vorwerfen werdet, falsche Erinnerungen zu haben oder mir etwas zusammen zu reimen. Ich betone deshalb, dass ich keinen Grund habe, mir etwas auszudenken, weil die (wenn auch späte) Verarbeitung meiner desaströsen Kindheit aus mir einen gesunden, zufriedenen und inzwischen auch glücklichen Menschen gemacht hat und dies Beweis genug ist, dass ich mich nicht irre.
Es hat lange gedauert (weit über 40 Jahre), meinen Kindheitsentschluss (die endgültige Trennung) in die Tat umzusetzen, weil viele Erinnerungen zwischenzeitlich verschüttet waren und ich als Erwachsener das mir noch Zugängliche genau recherchieren und nachträglich prüfen musste.
Entscheidend war am Ende die Tatsache, dass mein emotionales Gedächtnis, einmal freigelegt und aktiviert, hervorragend funktioniert und im Gegensatz zu beschwichtigenden und verleugnenden Schönrednereien unbestechlich ist, wahrscheinlich begreift Ihr hier nicht wovon ich rede, wen kümmert´s.
Angesichts der brutalen Behandlung durch Euch, der daraus folgenden verheerenden Konsequenzen für große Teile meines Erwachsenenlebens, angesichts Eurer Uneinsichtigkeit, welche Euren Charakter fast noch besser beleuchtet als Eure früheren üblen Taten, ist der Gedanke an Vergessen oder gar Vergeben völlig absurd.

Ich bin jetzt mit Euch fertig und kann nur noch eins tun, Euch nicht mitzuteilen, welche Ausdrücke ich für Euch und Euer Verhalten in meinen Gedanken hatte, aber letztlich ist das Thema bei mir durch, ich habe Besseres zu tun.
Meine Kinder und ich sind für Euch und alle anderen ehemaligen Verwandten Tabu, dafür werde ich jederzeit sorgen.”
IP

AM: Ich kann Ihnen zu Ihrer Befreiung nur gratulieren.Es ist eigentlich logisch, dass wir manchmal Jahre brauchen, um sich von den Folgen der viele Jahre dauernden Folter zu befreien, um endlich die Sehnsucht, die Illusionen und die Schuldgefühle loszuwerden, die wir so lange in uns trugen und die unser Leben vergifteten. Es ist wunderbar, dass Ihnen dies endlich gelungen ist, natürlich wird es anderen Besuchern helfen, ihre Geduld nicht zu verlieren, weil sich dieser Weg auf jeden Fall lohnt, meine ich. Ich habe Ihre früheren Briefe nochmals lesen wollen, aber finde sie nicht, weil Sie jetzt eine andere e-mail Adresse haben. Wollen Sie uns die frühere noch mitteilen?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet