Wie komme ich zu meinen Gefühlen?

Wie komme ich zu meinen Gefühlen?
Tuesday 11 July 2006

Liebe Alice Miller!
Kürzlich ist mir Ihr Buch “Der gemiedene Schlüssel” in die Hände gefallen, welches ich nach anfänglichem Widerwillen (schon wieder ein Psychobuch!) mit letztendlich großem Interesse gelesen habe. Ich möchte nicht behaupten, dass ich es aus intellektuellem Interesse gelesen habe, es hat mich vielmehr emotional angesprochen. Einige Passagen haben mich derart bewegt, dass ich minutenlang weinen musste, ohne es bremsen zu wollen. Nun werden die Fragen in meinem Kopf immer größer und auch eine gewisse Verzweiflung immer stärker, dass ich beschlossen habe, Ihnen zu schreiben, in der Hoffnung, eine Antwort zu erhalten.
Sie schreiben in Ihrem Buch: “Wenn sich keine Hoffnung mehr aufbauen lässt, dann hängt das mit weit zurückliegenden und ins Unbewusste verdrängten Gründen zusammen.” Ich muss zugeben, dass ich ziemlich hoffnungslos in die Zukunft schaue. Ich leide seit 5 Jahren an Panikattacken, Angstzuständen und seit einiger Zeit haben sich auch Depressionen dazugesellt. Auf somatischer Ebene passiert eigentlich am meisten, ich habe ziemlich starkes Asthma, häufige Magenbeschwerden und Schwindelgefühle und bin alles in allem sehr kraftlos. Viele Ängste drehen sich um den eigenen Körper, ich fürchte, dass mein Herz stehen bleiben könnte, dass ich ohnmächtig werde, usw… Dabei bin ich erst 25 und noch mitten im Studium! Viele sagen, dass es besser ist, sich jetzt mit seiner Vergangenheit auseinander zu setzen als viel später. Das mag sein, aber trotzdem fühle ich mich aufgrund dieser schweren psychischen Störungen um meine Jugend betrogen. Dennoch habe ich ja keine Wahl, denn die Probleme und Ängste sind da und ich kann sie nicht einfach ignorieren. Aus ihnen zu lernen, ist mir erst in Ansätzen gelungen, meistens möchte ich sie doch wieder “wegwünschen” und das Leben meines Traumvorstellungen führen.
Immer wieder kreist in meinem Kopf die Frage, wie ich es anpacken kann, die Verletzungen aus meiner Kindheit wieder hervor zu holen. Ich bin von meinen Eltern nicht geschlagen noch sonst irgendwie körperlich misshandelt wurden, in unserer Familie herrschte psychische Gewalt. Mein Vater hat mich mit Grundsätzen des christlichen Glaubens erstickt und konnte selbst nie Gefühle zulassen. Am meisten hat er mich mit Schweigen und Liebesentzug gestraft, wobei ich deutlich erspüren konnte, wie ich sein muss, um von ihm akzeptiert zu werden. Ich habe mich sehr früh an seine Reaktionen angepasst und sämtliche Konfliktpunkte gemieden. Ich hatte mein Leben lang riesige Angst vor ihm und habe erst sehr spät erkannt, dass er auch ein ängstlicher und schwacher Mann ist. Meine Mutter hat den liebenden Gegenpart eingenommen, der versucht hat, mich vor der Gewalt meines Vaters zu schätzen. Geliebt habe ich mich von ihr aber auch nicht gefühlt, unsere Beziehung war eher auf einer Abgrenzung zu meinem Vater aufgebaut. Sie hat mich bestimmt viel zu sehr in Schutz genommen, so dass ich auch heute noch sehr viel von anderen Menschen, insbesondere von Frauen erwarte. In der Schule gehörte ich immer zu den besten, was meinen Eltern sehr gefiel, und auch heute habe ich das Gefühl, immer noch einer Sucht nach Anerkennung hinterher zu jagen, irgendwelche Dinge also nur des Lobes und nicht der eigenen Zufriedenheit wegen zu tun. Da ich aber langsam diese Mechanismen aufdecke, geht mir immer mehr die “Puste” aus, da ich den hohen Anspruch habe, mich selbst und nicht andere zufrieden zu machen. Das habe ich aber nie gelernt. Ich schweife ab…
Nach der Lektüre Ihres Buches hatte ich einen tröstenden Gedanken: es lohnt sich eventuell, die Gefühle aus seiner Kindheit hervorzuholen.
Ich bin zum Glück noch nicht derartig abgestumpft, dass ich nun gewissenlos die Welt hasse. Und bevor ich anderen Menschen wehtue, tue ich mir eher selbst weh. Ich fühle mich kein Stück bereit, Kinder zu zeugen, da ich sie wahrscheinlich zu sehr verletzen würde. Es hört sich alles so einfach an, wenn ich es in Worte packe: Ich “weiß” fast alles aus meiner Vergangenheit, aber ich “spüre” fast nichts mehr. Ist dies vielleicht der normale Werdegang vieler Menschen? Ich kann es aber nicht akzeptieren, da diese Gefühlsleere derart auf mein gesamtes Leben umschlägt, dass ich anfange, um es zu fürchten. Wie stellt man es aber an, sich den Gefühlen zu stellen, die man eventuell selbst in sich abgeschlossen hat, aus Angst, sie nicht zeigen zu dürfen? Kann es sein, dass sie bei einigen Menschen so groß und unerträglich werden, dass man sie für immer bedeckt halten muss? In Ihrem Buch klingt das alles so einfach, z.B. Hätte Nietzsche den Mut gehabt, das wahrzunehmen, was ihm angetan wurde, dann wäre er vielleicht kein großer Philosoph geworden, aber er hätte ein lebenswertes Leben haben können. Sie können mir glauben, ich will überhaupt niemand “Großes” werden, ich mache mir nichts mehr aus Eitelkeiten, ich möchte nur eine sinnvolle Aufgabe im Leben finden, morgens ohne Angstzustände aufwachen und in der Lage sein, ein oder zwei Menschen wirklich zu lieben. Aber ich bin dermaßen blockiert, da ich zwischen totaler Schuldzuweisung und Idealisierung meiner Eltern hin und her schwanke. Und beides bringt mir überhaupt nichts ein, da ich mich damit meinem Ich, meinem Empfinden kein Stück nähere.
Ich möchte nichts weiter, als den Mut zur Wahrnehmung zu haben, selbst wieder offen und tapfer wahrnehmen können. Wahrscheinlich renne ich immer noch davon. Sie können mir natürlich auch nicht sagen, was passieren muss, damit ich stehen bleibe und mich traue, das wahrzunehmen, was im Moment ist, und was vielleicht vor 2 Tagen war, und was vielleicht vor 15 Jahren war. Im Grunde meines Herzens bin ich ein sehr sensibler Mensch, der leicht zu verletzen ist aber auch sehr empfänglich für die Gefühle anderer Menschen ist. Leider bin ich dabei, diese Gabe wegzuschmeißen, da ich mit meiner Gefühllosigkeit den Respekt vor dem Leben verliere. Nach der Lektüre Ihres Buches ist mir die Erkenntnis gekommen, dass ich mich selbst weiter zerstöre, da bei mir etwas zerstört wurde. Wenn ich extrovertierter oder rücksichtsloser wäre, würde ich vielleicht auch die Rechte und Gefühle anderer mit Füßen treten. Das ist aber für mich keine Lebensalternative. So bleibe ich lieber auf Abstand zu anderen Menschen, da ich wahnsinnige Angst davor habe, dass mit der Zeit durchschimmern könnte, wie wenig Respekt ich vor dem Leben habe. Aber wie ich es bereits beschrieben habe, ich bin nicht völlig abgestumpft und so zu leben erfüllt mich nicht mit Stolz. (Vielleicht ist es besser für die Umgebung, wenn man sich selbst ständig in Frage stellt und besser für die eigene Persönlichkeit, seine eigenen Fehler und Macken kompromissloser durchzusetzen…) Ich weiß ziemlich genau, wo ich hin möchte, denn wir haben nur dieses eine Leben und wenn wir uns nicht trauen zu empfinden, dann hat das Leben nicht viel Sinn gehabt.
Eine andere Frage taucht bei mir auf, wenn ich den Abschnitt über Celan lese. Möchten Sie etwa damit ausdrücken, dass er sein Leben hätte retten können, wenn er begriffen hätte, dass sein ganz persönlicher Schmerz andere Menschen anspricht? Und dass auch er nicht den Mut hatte, in voller Bandbreite wahrzunehmen? Ich bin kein Verfechter der Mystik oder der hohen Philosophie, ich glaube durchaus an die Faszination des “kleinen Selbst”. Aber was mein eigenes Leben angeht, da erscheint mir das Selbst zu klein. Wen interessiert denn meine Geschichte? Ich bin selbst Musiker und aus meiner Musik sprechen natürlich auch meine Gefühle, aber sie sind oft so verworren, dass ich andere damit nicht erreiche. Außerdem bin ich beim Komponieren zum Teil sehr verkopft, so dass ich es nicht als geeignete Ausdrucksform meiner Gefühle ansehe. Um das, was ich sagen möchte, auf einen Punkt zu bringen: alleine in meinem Zimmer zu sitzen und meine Vergangenheit durchzukauen lässt mich genauso einsam bleiben wie zuvor, aber wie kann mein Leiden einen Sinn erhalten? Wie kann ich jemanden damit erreichen und wer möchte überhaupt damit erreicht werden? Im Leben der meisten Menschen ist für so etwas kein Platz, wahrscheinlich da sie es selbst immer wieder perfekt verdrängen. Nur das gelingt mir nicht mehr, es kommt in Form von Panikattacken und Depressionen zum Vorschein, spätestens auf diesem Weg.
Ich denke, das ist erst mal alles, was ich Ihnen schreibe möchte, ich hoffe, Sie haben Lust, mir auf den Brief zu antworten. Auf jeden Fall danke ich Ihnen dafür, dass ich schon beim Lesen von “Der gemiedene Schlüssel” neuen Mut fassen konnte, nun hoffe ich, damit einen Weg beschreiten zu können, der auch weitere Fortschritte bringt.

Herzliche Grüße, T. M. aus Berlin

AM: Sie haben nur den “Gemiedenen Schlüssel” gelesen und haben so viel daraus verstanden. Ich denke, dass das Wissen Ihnen weiterhilft und vielleicht sogar die Grundlage bildet, um die alten Gefühle ohne Angst zuzulassen. Versuchen Sie mein Buch “Die Revolte des Körpers” zu lesen und auch die Artikel (über die Depression, die Schuldgefühle und andere). Wenn dabei die Tränen kommen, sind Sie doch schon auf der Spur zu Ihren Gefühlen, zu Ihnen selbst und Ihrer Geschichte. Wenn Sie das Bedürfnis haben, von einem wissenden Zeugen dabei begleitet zu werden, lesen Sie meine FAQ Liste, bevor Sie sich auf einen Therapeuten festlegen. Diese Liste ermutigt zum Fragenstellen. Ich denke, dass Sie viel Geld und Zeit sparen können, wenn Sie sich nicht scheuen, die Fragen, die ich dort vorschlage, oder andere, die Sie seit langem beschäftigen, wirklich zu stellen und auf den Antworten zu bestehen. Die meisten Therapeuten werden sich weigern, Ihre Fragen zu beantworten, oder werden zurückfragen (“warum wollen Sie das wissen?”) Dann geben Sie es mit ihnen auf, sonst riskieren Sie jahrelange erfolglose “Behandlungen”.
Ich zweifle nicht daran, dass es Ihnen gelingen wird, Ihre wahre Geschichte kennenzulernen und dem Kind zu begegnen, das so lange ganz allein gelitten hat, weil niemand sich für dessen Leiden interessierte. Diese Haltung haben Sie übernommen und sind sich selbst dabei entfremdet. Aber in den Panikattacken und Depressionen meldet sich Ihre Geschichte, und Sie scheinen auf dem besten Weg zu sein, sich ihrer anzunehmen. Ich wünsche Ihnen viel Glück dabei.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet