Gefühle als Wegweiser

Gefühle als Wegweiser
Tuesday 08 December 2009

Liebe Frau Miller!

Vor 3 Monaten habe ich meine ca. 4 Jahre dauernde Psychoanalyse beendet. Ich konnte gut realisieren, dass ich in meinem Leben voller Schuldgefühle war,nie genug war und nicht konfliktfähig bin. Die Auseinandersetzung mit meinen introjizierten Eltern ist einigermaßen gut gelungen.Zu Beginn meiner Therapie habe ich über meine Eltern gesprochen und habe vorsichtig versucht, über meinen Großvater zu reden. Da sagte meine Therapeutin, ich solle mir nicht auch noch die Neurosen meines Großvaters anhängen.Dann habe ich mich lange nicht mehr gewagt, über ihn zu sprechen, bis ich Anfang diesen Jahres nochmals den Mut aufbrachte.Ich weiß, dass meine Probleme als Kind so richtig anfingen, als mein Großvater gestorben war.Ich war gerade 10 Jahre alt. Ich weiß noch, dass ich zunächst richtig „heiss“darauf war, mit auf seine Beerdigung zu gehen.Ganz kurz vor dem Beerdigungstermin hat mich dann riesengroße Angst ergriffen und ich bin zu Hause geblieben. Angeblich hat mich mein Großvater von Geburt an innig geliebt.Als ich ein kleins Mädchen war fuhren wir regelmäßig meine Großeltern besuchen. Meine Opa liebte mich sehr (das wurde mir immer von meinen Eltern erklärt).Er wünschte viel Nähe zu mir.Wenn ich auf seinem Schoß saß,hatte er Tränen in den Augen und ich wäre am liebsten weggelaufen.Ich wäre ein unartiges Kind gewesen, dass die Liebe nicht zu schätzen gewusst hätte, also blieb ich bei ihm.Später musste ich für ihn Gedichte auswendig lernen und vor der ganzen Familie aufsagen. Mein Opa weinte nur.Die großen Probleme in meinem Leben fingen an, als mein Großvater gestorben war.Ich konnte kurz darauf Nachts nicht mehr schlafen, konnte die Falten im Betttuch nicht ertragen und hatte Angst zu sterben.
Das zog sich über 3 Jahre, sodass ich die Schule wechseln musste.
Meine Psyche wurde immer labiler. Mit 14 Jahren Panikattacken, mit 16 Depressionen, eine Herzkrankheit und vielfältige psychosomatische Probleme.Meine Träume sowie mein Gefühlsleben war vom Tod geprägt.
Meine Probleme hatten große Auswirkungen auf meine Ehe, mein Verhältnis zu meinen 3 mittlerweile erwachsenen Kindern und auf mein Berufsleben.Anfang diesen Jahres habe ich dann in der Therapie ein vage erinnertes Ereignis geschildert.Ich liege neben meinem Großvater im Bett. Er wirkt auf mich traurig. Ich berühre seinen Beinstumpf (Kriegsverletzung), der sich ganz faltig, weich und leblos anfühlt.Ich erinnere mich weiter, dass ich dann in einem anderen Zimmer schlafe und mich von meiner Großmutter bedroht fühle.In meiner Erinnerung hatte meine Großmutter nie ein herzliches Verhältnis zu mir.Kurze Zeit später war mein Großvater tot. Er lag morgens tot im Bett.Als ich dies in der Therapie ansprach, wollte ich meine heutigen Empfindungen, vor allen in Bezug auf meine Sexualität mit meinen damaligen Erfahrungen verknüpfen. Ich begann zu realisieren, dass ich mich schuldig dafür fühle, nicht freundlicher zu ihm gewesen zu sein. Insgeheim denke ich, dass er sich umgebracht hat, weil ich sein Liebe nicht erwidern konnte.In der Sexualität habe ich große Probleme mit Abgrenzung, dem Erkennen von eigenen Wünschen und einem Gefühl von Ekel.Meine Therapeutin hörte sich meine Erzählungen an und meinte,man könne keine Gefühle konservieren. Die Schuldgefühle würde ich mir nur einreden. Ich könnte das ganze ja auch unter einem anderen Blickwinkel sehen. Wenn ich nicht geboren worden wäre, wäre er vielleicht schon früher gestorben. So hat er eben noch 10 Jahre gelebt. Ich solle endlich aufhören, gedanklich um das Thema zu kreisen.
37 Jahre habe ich mich nicht gewagt, davon zu sprechen und für meine Therapeutin war das Thema in weniger als 3 Minuten abgehakt.Damit komme ich auch 3 Monate nach Beendigung der Therapie nicht zurecht.
Können diese Gefühle nicht doch konserviert in meinem Körper sein und nach wie vor für meine große Atemnot sorgen? Ein großes Problen ist für mich auch, dass ich meinen eigenen Wahrnehmungen nicht traue und mich immer wieder frage, ob das alles überhaupt stimmt.Kann das eine Bedeutung für meine heutigen Probleme haben. Kann man vielleicht doch Gefühle konservieren?

Mit freundlichen Grüßen

S.A.

AM: Wir konservieren die Gefühle nicht, sie „konservieren“ sich ohne unser Dazutun und vielleicht auch gegen unseren Willen. Das Verhalten Ihrer Therapeutin halte ich für skandalös, Sie wollte Ihnen Ihre Gefühle ausreden, und es sind doch gerade diese Gefühle, die unsere Wegweiser sind. Offenbar gibt es etwas in Ihrer Geschichte mit dem Großvater, das Sie nicht in Ruhe lässt, bis Sie sich von Ihrer Gefühlen leiten lassen, diese ernst nehmen und deren Gründe verstehen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet