Die

Die
Monday 26 January 2009

Guten Tag Frau Miller, im Drama des begabten Kindes habe ich mich mit meinem Leben sehr wiedergefunden. Ich war ein junger Erwachsener/Mann/Vater/Mutter schon im Alter von 3 bis 4 Jahren für meine Mutter. Habe mich durch die Beachtung etc. groß gefühlt. Außerdem habe ich mich rührend erwachsen um meine jüngere Schwester gekümmert. Den Alkohlismus meines Vaters habe ich immer gedeckt. Seine Schläge (ich wurde vier bis 5 mal stark verdroschen) habe ich als „erziehungskorregierend“ empfunden und den katholisch angehauchten Unterdrückungszwang meiner Großmutter wohl als Liebe empfunden.Vor 4 Jahren, auf einer Familienfeier, kam bei mir alles zum Einsturz und mündete in einer schrecklichen Panikattacke. Zum Glück habe ich sie direkt als solche ausmachen können und habe mich um eine Therapie bemüht. Durch diese Panikattacke wurde mir meine Depression erst bewußt. Seit ca. 3 1/2 Jahren mache ich Therapie und entwickle mich nach meinem Empfinden in die richtige Richtung – meine Panikattacken tauchen seit 2 Jahren kaum mehr auf. Ich fühle mich immer seltener Depressiv und verspüre Lebensfreude. Nun zu meinem Anliegen: Die Wahrheit ist für mich im letzten halben Jahr meiner Therapie zu einem sehr tragendem, wichtigem Thema geworden. Ich spüre die reinigende Wirkung eines realen Umgangs mit mir in Bezug auf mich selbst und andere und umgekehrt versuche ich meine Grenzen zu wahren bzw. zu schützen. Ich mache meine Eltern, meine Großmutter immer deutlicher – vor mir selbst und in der gegenseitigen Auseinandersetzung – für ihr vergangenes und auch gegenwärtiges Verhaltenverantwortlich. Ich fühle mich aber im alltäglichen Leben so stark an dieses Wahrhaftigkeitsideal gebunden, daß ich das Gefühl habe, sobald ich auch nur einen Millimeter von dieser Spur (bewußt oder unbewußt – es gibt bei mir auch den Zustand des halbbewußten – damit meine ich einen Zustand der meine Realität halbverwischt zuläßt) abweiche mich herzugeben, zu verlieren – es kommen Ängste hoch verrückt/schizophren zu werden – begleitet von Entfremdungsgefühlen, danach noch zeitweise depressive Episoden.
Wie stehen Sie zu den „kleinen Lügen“ des Alltags?
Gehört es zu unserer Gesellschaft und erschafft es erst die Möglichkeit darin zu existieren,daß man tagtäglich zig mal „lügt“ – den anderen deckt – „Nein Schatz – dein Bauch stört mich nicht“ obwohl mich der Bauch stört und meine Freundin dadurch sexuell unattraktiver für mich wird?, oder weiter zuhören, obwohl man denkt „kannst du bitte endlich damit aufhören, mir jeden Tag die gleichen Haßtiraden aus deinen Erlebnissen im Straßenverkehr zu erzählen“, oder ein Treffen nicht ablehnt obwohl man denkt „Nein – ich habe kein Interesse Dich zu treffen“ etc. Ich hinterfrage mich in dieser Hinsicht, da ich das Gefühl habe, würde ich einem absoluten Wahrheitsanspruch verfolgen, ständig korregierend ins Miteinander eingreifen müssen und habe außerdem das Gefühl ziemlich schnell alleine dazustehen. Meist fühlt sich das Gegenüber doch sehr verschreckt, zurückgewiesen bzw. beleidigt, wenn man es für sein Tun/Sein verantwortlich macht. Ich habe den Zugang zur Wichtigkeit der Wahrheit noch nicht so sehr lange erfahren dürfen (es nimmt spürbar immer mehr Kontur seit ca. 6 Monaten an) und ich weiß aus dem bisherigen Verlauf meiner Therapie, daß ich „Neue Güter“ erst mal sehr stark bzw. total ausgelebt/empfunden habe. Außerdem empfinde ich oft sehr starke Wut, wenn ich das Gefühl habe, jemanden decken zu müssen.

mit freundlichsten Grüßen (und der Hoffnung auf Antwort)
M.N. (30 Jahre)

AM: Wie Sie schreiben, haben Sie Ihre ganze Kindheit hindurch Ihre eigenen Regungen, Gefühle und Bedürfnisse unterdrücken müssen, um anderen gefällig zu sein. Nun haben Sie das erkannt und leiden darunter, Sie möchten dies nicht mehr tun. Es ist Ihr gutes Recht, sich selbst treu zu bleiben, das BRAUCHEN Sie, um sich wohl zu fühlen. Es sind keine kleinen Lügen, es geht darum, seine Gefühle ernst zu nehmen, etwas, das Sie in Ihrer Kindheit nicht lernen konnten, aber jetzt können. Ihre Wut ist berechtigt und heilsam, weil Sie so merken, dass Sie in Gefahr sind, sich wie füher anderen zuliebe zu verraten

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet