Gut domestizierte Politiker
Wednesday 05 April 2006
Sehr geehrte Alice Miller,
gerade schaue ich mir eine Fernsehdiskussion über die randalierenden Jugendlichen in Frankreich und neuerdings auch in Berlin an. In den letzten Wochen wurde deutschlandweit über „Fehlverhalten“ und Gewalt von Jugendlichen an Berliner Schulen berichtet. An der Diskussion nahmen der der Innenminister des Landes Brandenburg, Jörg Schönbohm, und einer der wichtigsten deutschen Industriellen, Olaf Henkel, teil.
Ich war entsetzt, allein über das Vokabular dieser in der deutschen Politik sehr einflußreichen Herren…
Olaf Henkel berichtete, daß seine Mutter, Kriegswitwe eines wohlhabenden Industriellen, „ewig dankbar“ sei, daß sie ihn, ein schwer erziehbares Kind, auf ein sehr hartes Internat in Hamburg geschickt habe – die sogenannte „Rauhschule“ – der Name steht für den Stil dieser noch immer bestehenden Einrichtung. Dort habe er endlich die Tugenden gelernt, die
Gut domestizierte Politiker
Wednesday 05 April 2006
Sehr geehrte Alice Miller,
gerade schaue ich mir eine Fernsehdiskussion über die randalierenden Jugendlichen in Frankreich und neuerdings auch in Berlin an. In den letzten Wochen wurde deutschlandweit über „Fehlverhalten“ und Gewalt von Jugendlichen an Berliner Schulen berichtet. An der Diskussion nahmen der der Innenminister des Landes Brandenburg, Jörg Schönbohm, und einer der wichtigsten deutschen Industriellen, Olaf Henkel, teil.
Ich war entsetzt, allein über das Vokabular dieser in der deutschen Politik sehr einflußreichen Herren…
Olaf Henkel berichtete, daß seine Mutter, Kriegswitwe eines wohlhabenden Industriellen, „ewig dankbar“ sei, daß sie ihn, ein schwer erziehbares Kind, auf ein sehr hartes Internat in Hamburg geschickt habe – die sogenannte „Rauhschule“ – der Name steht für den Stil dieser noch immer bestehenden Einrichtung. Dort habe er endlich die Tugenden gelernt, die Deutschland zur Zeit völlig abgingen: Disziplin und Pünktlichkeit und das Anerkennen von Autoritäten.
Innenminister Schönbohm empfahl für schwer erziehbare Jugendliche eine Art „Schnupperknast“. Auf die Frage, wer denn in einen solchen Schnupperknast eingewiesen werden solle, antwortete er – und ich zitiere wörtlich: „Kinder und Jugendliche, die von ihren Eltern nicht domestiziert werden können, die die natürliche Autorität der Eltern und der Lehrer nicht anerkennen!“
Ich war für Augenblicke völlig sprachlos – dies nur als Hinweis, liebe Frau Miller, daß Ihre Arbeit nötiger ist denn je. Wieder wurden Kinder und Jugendliche per se als böse und unerzogen dargestellt – Erziehung und Strenge wurden als einziger Ausweg zum „Beugen des Trotzes“ angesehen. Auch entlarvte sich der Industrielle Olaf Henkel, der von den „Sekundärtugenden“ faselte, als er zutiefst bedauerte, daß Kinder und Jugendliche auf den Schulen nicht genügend auf das Wirtschaftsleben vorbereitet werden. Ihm ging es nur um die Ausrichtung zum Nutzen der Wirtschaft.
Ich will über diese empörenden und entlarvenden Äußerungen nicht weiter berichten – aber ich denke, es ist wichtig, darzustellen, was in den Köpfen von Politikern und Wirtschaftsmanagern vorgeht, die das gesellschaftliche Leben zu bestimmen versuchen.
Herzliche Grüße – W. B.
AM: Vielen Dank für Ihren Brief. Es ist gut, dass wir manchmall (leider nicht oft genug) solche hellwachen Berichte zu lesen bekommen, sonst könnte man meinen, dass die so gut domestizierten Politiker ungestört ihre ignoranten Sprüche klopfen können, ohne dass dieser Schwachsinn von jemandem wahrgenommen wird. Leider getrauen sich nur wenige, ihre Kritik zu äußern, und wenn sie es tun wollen, verweigert ihnen die Presse die Veröffentlichung. Das ist mir schon zweimal mit dem SPIEGEL passiert, als ich mich gegen die Ignoranz eines psychiatrischen Experten im Falle Jessica äußern wollte. Auf der Seite Artikel finden Sie den Text und die Einzelheiten. Deutschland zur Zeit völlig abgingen: Disziplin und Pünktlichkeit und das Anerkennen von Autoritäten.
Innenminister Schönbohm empfahl für schwer erziehbare Jugendliche eine Art „Schnupperknast“. Auf die Frage, wer denn in einen solchen Schnupperknast eingewiesen werden solle, antwortete er – und ich zitiere wörtlich: „Kinder und Jugendliche, die von ihren Eltern nicht domestiziert werden können, die die natürliche Autorität der Eltern und der Lehrer nicht anerkennen!“
Ich war für Augenblicke völlig sprachlos – dies nur als Hinweis, liebe Frau Miller, daß Ihre Arbeit nötiger ist denn je. Wieder wurden Kinder und Jugendliche per se als böse und unerzogen dargestellt – Erziehung und Strenge wurden als einziger Ausweg zum „Beugen des Trotzes“ angesehen. Auch entlarvte sich der Industrielle Olaf Henkel, der von den „Sekundärtugenden“ faselte, als er zutiefst bedauerte, daß Kinder und Jugendliche auf den Schulen nicht genügend auf das Wirtschaftsleben vorbereitet werden. Ihm ging es nur um die Ausrichtung zum Nutzen der Wirtschaft.
Ich will über diese empörenden und entlarvenden Äußerungen nicht weiter berichten – aber ich denke, es ist wichtig, darzustellen, was in den Köpfen von Politikern und Wirtschaftsmanagern vorgeht, die das gesellschaftliche Leben zu bestimmen versuchen.
Herzliche Grüße – W. B.
AM: Vielen Dank für Ihren Brief. Es ist gut, dass wir manchmall (leider nicht oft genug) solche hellwachen Berichte zu lesen bekommen, sonst könnte man meinen, dass die so gut domestizierten Politiker ungestört ihre ignoranten Sprüche klopfen können, ohne dass dieser Schwachsinn von jemandem wahrgenommen wird. Leider getrauen sich nur wenige, ihre Kritik zu äußern, und wenn sie es tun wollen, verweigert ihnen die Presse die Veröffentlichung. Das ist mir schon zweimal mit dem SPIEGEL passiert, als ich mich gegen die Ignoranz eines psychiatrischen Experten im Falle Jessica äußern wollte. Auf der Seite Artikel finden Sie den Text und die Einzelheiten.