Wenn ein Kind schweigt
Wednesday 20 June 2007
Sehr geehrte Frau Miller,
zum einen möchte ich mich dafür bedanken, daß Sie auf mein erstes Schreiben geantwortet hatten. Die Antwort spürte ich so tief in meinen Bauch, daß ich davor richtig erschrocken war – es war, als dürfte ich mich wirklich ernst nehmen und mein Geschreibenes spiegelte nicht nur unzufriedenes unberechtigtes Gejammer wieder – denn genau mit diesem Empfinden hatte ich meine eigenen Gefühle zu regulieren, wie es wohl die Realität der meisten darstellt.
Ich stieß auf einen Punkt, der mir nicht ganz verständlich erscheint, deswegen wollte ich bei Ihnen noch einmal nachfragen, denn ich bin innerlich noch nicht so weit “erwacht” um zu erkennen, was für mich richtiges Handeln ist.
Seit mein Mann eine Projektwohnung in der Nähe seines Arbeitsplatzes hat, wohne ich wieder mit ihm zusammen, zuvor lebten mein Sohn und ich etwa vier Monate bei meinen Eltern – mein Mann arbeitet immer Projekteweise an anderen Orten. Die Situation hatte sich für mich innerlich so sehr zugespitzt, daß ich wirklich heilfroh war wieder dort ausgezogen zu sein.
Es geht mittlerweile so weit, eben auch weil ich meine Kindheitsrealität zum Teil zulasse, daß ich Unterleibskrämpfe bekomme, wenn ich daran denke meine Eltern, vor allem meine Mutter würde anrufen wollen. Mein Mann jedoch meint, wir sollten sie doch mal wieder besuchen, weil unser Sohn seine Großeltern so gerne hat. Das letzte Mal jedoch als wir das taten hatte ich zwei Wochen vorher eine Blutung, die denke ich von meiner Gebärmutter ausging. Ich bin nicht zum Arzt und wußte auch nicht so recht, ob ich mich irre, denn es ging schnell vorbei und schmerzte nicht, so dachte ich es hätten ja auch meine Tage sein können. Diese hätten aber noch Zeit gehabt und innerlich hatte ich es als solche wahrgenommen.
So passierte es, daß drei Wochen vergingen seit dem Besuch dort und ich jeglichem Telefonat ausweichen konnte, meine Mutter mich aber erwischte, als ich ihr keine schnelle Ausrede liefern konnte und so sprudelte alles mögliche aus mir heraus. Ich versuchte möglichst keine Vorwürfe zu formulieren, was mir aber nicht ganz gelang und erzählte ihr von meinen körperlichen Sympthomen, weil sie zuvor an meine Vernunft appeliert hatte. Das Gespräch endete, wie so oft, wenn ich versuchte meine Gefühle und Erlebnisse zu schildern, daß sie weinte und ich das Gefühl hatte, sie wollte mir damit nur wieder zeigen, wie böse ich sei und kalt.
Sie hatten sich denke ich an diversen Stellen dazu geäußert, wie es vielleicht gut sei mit seinen noch lebenden Eltern umzugehen – sicherlich gibt es hierfür keinerlei pauschale Lösung. Ich hatte Sie jedoch so verstanden, daß es nicht gut sei, den heute lebenden Eltern Vorwürfe zu machen, sondern, den Eltern von damals, die einem das Leid zugefügt haben – also den Eltern, die noch in unserem Köper sitzen, aber real nicht mehr existieren. Andernorts verstehe ich es so, daß eine Aussprache sehr fruchtbar sein kann, aber es eben eine Frage der Erwartungen und Formulierungen ist.
Ich zergehe in diesem Punkt schon manchmal in schlechtem Gewissen, aber ich kann es momentan wirklich körperlich nicht mich auf diese oberflächlich harmonische Ebene einzulassen. Meine Mutter meinte sogar, es würde sie interessieren, was den so mein “Problem” sei, aber diese Sätze kommen immer von ihrer Position, auf dem hohen Ross und sie zeigt in keinster Weise die Bereitschaft mich ernst zu nehmen.
Ich spüre tatsächlich noch nicht, wann meine Reaktion wirklich unangemessen ist und wann sie sich nur so anfühlt.
Oft passiert es mir, nach dem Lesen einiger ihrer Bücher, daß ich es innerlich weiß, wie sehr Sie recht haben, aber meine eigenen Gefühle so sehr abwerte, daß ich selbst wieder nur die Hülle bin, die rational argumentiert, aber nichts von dem eigenen Selbst zulassen möchte.
Ich wünschte, ich könnte Ihnen noch viel mehr schreiben, denn Sie sind dieser wundervolle Mensch, der mich auf mein – noch nicht so sehr gefühltes – inneres Kind aufmerksam macht und der ihm zuvor diese wundervolle Beachtung, das Verständnis und den Respekt geschenkt hat, nach dem es sich so sehr gesehnt hat, aber ich weiß, Sie haben viel zu tun und es ist an mir die einzelnen Schritte dieses langen Weges zu gehen, der vor mir liegt.
Schade, daß Ihre Bücher keine Pflichtlektüre in den Schulen sind ;-), denn sie sind so wichtig! Aber natürlich wird es lange nicht so weit kommen, weil Lehrer sein in keinster Weise bedeutet besonders innerlich reflektiert zu sein. Allerdings habe ich es gewagt einen ehemaligen wundervollen Kunstlehrer von Ihren Büchern zu erzählen, mit dem wir damals (vor zehn Jahren) noch Freud beim Kunststammtisch lasen.
Vielen, vielen Dank, B. F.
AM: Ich habe Ihnen damals geschrieben: „Ein Kind, das plötzlich aufhört, zu sprechen, musste sehr viel Schlimmes erfahren haben. Ich wünsche Ihnen viel Mut zu dieser Wahrheit.“ Damit wollte ich Sie auf das Leiden Ihrer Kindheit aufmerksam machen, doch Sie scheinen diesen Satz noch nicht hören zu wollen. Lassen Sie sich Zeit, die Blutung hat ja auch schon gesprochen. Das Kind wird die Worte finden, wenn es Ihren Schutz spürt. Dann wird es sich von der Angst schrittweise befreien. Trauen Sie Ihren Gefühlen, nehmen Sie sie ernst und fragen Sie nicht mehr, “was sich gehört”.