Merken dürfen

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Friday 06 February 2009

Liebe Frau Miller,

ich möchte Ihnen heute etwas sehr Schönes schreiben.
Meine Tochter ist kürzlich 18 geworden und hat seither auch den Führerschein.
Sie sparte schon lange auf ein eigenes Auto,hat dafür auch neben der Schule
gearbeitet.
Da ihr Vater das Auto als Praxiswagen angemeldet hat,konnte sie sich ein
neueres Modell kaufen.
Das klingt zunächst alles wunderbar,ist es aber nicht.
Der Vater behielt den Fahrzeugbrief ein,weil er damit ein Druckmittel in der
Hand hat.
Wenn sie nicht tut was er sagt,droht er jedesmal damit den Wagen abzumelden.
Meine Tochter hätte es wissen müssen,denn das gleiche Spiel hat der Vater
auch schon mit meinem ältesten Sohn gespielt.Als mein Sohn einmal seinem Vater
widersprach,ist dieser hergekommen und hat die Nummernschilder vom Wagen meines
Sohnes abgeschraubt und mitgenommen.(Mein Sohn sagte unlängst zu mir : Mein
Vater ist kein Mensch)
Aber da man nur aus eigenen Erfahrungen lernen kann,schlug sie alle Warnungen
ihrer Brüder in den Wind.
Es dauerte nicht lange,da drohte der Vater auch schon mit der Abmeldung,weil
meine Tochter nicht so wollte wie ihr Vater.
Kurz darauf verstarb ihr Großvater (väterlicherseits) nach langer Krankheit.
Ihr Vater,der ihr gerade noch gedroht hatte,rief sie an,um sie vom Ableben des
Großvaters in Kenntnis zu setzen.
Er tat dies völlig aufgelöst,weinend und schluchzend.
Meine Tochter erzählte mir voller Empörung von dem Anruf.Ihr drohe der
Vater,sie höre nie ein gutes Wort von ihm,den Unterhalt bezahle er auch
nur,wenn sie ihn sich bei ihm persönlich -500 km entfernt -abhole und bei dem
lange erwarteten Tod des Großvaters heule er wie ein Schloßhund..
Er sei herzlos und gemein und das Ganze sei auch total lächerlich und sie
wolle nun nichts mehr mit ihm zu tun haben.Das Auto hätte sie selbst bezahlt,er
könne es absetzen und mache sogar noch Gewinn und verdiene an ihr.Er mache
ohnehin nie etwas wenn nichts für ihn dabei herausspringe.
Seine Kinder seien ihm völlig gleichgültig,seine Eltern bedeuteten ihm alles.
Am nächsten Tag erhielt meine Tochter eine sms von ihrem Vater in der ihr
mitgeteilt wurde an welchem Tag und zu welcher Stunde sie sich zur Beerdigung
einzufinden habe.
Sie ist nicht zur Beerdigung gefahren.Den Grund für ihre Entscheidung hat sie
ihrem Vater mitgeteilt.
Vom Vater hörte sie danach nichts mehr.
Stattdessen erhielt sie eine mail ihrer Cousine,die sie darin aufs Ärgste
beschimpfte.
Daß meine Tochter nicht an der Beerdigung teilgenommen habe,sei unverzeihlich.
Obwohl ihr Verhalten unverzeihlich sei, solle sie sich umgehend bei ihrem Vater
und ihrer Großmutter entschuldigen.
Meine Tochter schrieb zurück:”Kümmere Dich um Deinen eigenen Kram”
und löschte die Daten ihrer Cousine,die sie jetzt nicht mehr erreichen kann.

Meine Tochter kuschelte sich nach getaner Tat ein bißchen an mich,straffte
aber bald schon wieder ihre Schultern und kurze Zeit später hörte ich sie
schon wieder mit einer ihrer Freundinnen lachen und scherzen.

Die Nummernschilder befinden sich nach wie vor am Auto.

Ich hoffe ich habe ihnen mit dieser mail eine kleine Freude gemacht und
wünsche Ihnen von Herzen alles alles Liebe und Gute

P.S. Mir fiel zu meiner eigenen Kindheit wieder etwas ein.Mein Vater sagte
damals einmal,die Prügelorgien hatte er da schon beendet,es hätte alles keinen
Zweck mit mir,ich sei stur und unbelehrbar.
Offenbar hat meine Tochter von meiner Sturheit und Unbelehrbarkeit profitiert.

AM: Ja, wenn es den Kindern erlaubt ist, mit der Klarheit aufzuwachsen, dann dürfen sie später schnell merken, falls sie missbraucht werden, sie lassen sich dann nicht alles gefallen. Ich verstehe Ihre Freude.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet