Die Dressur

Die Dressur
Saturday 22 November 2008

Sehr geehrte Frau Miller,

ich muß michbei Ihnen entschuldigen. Ich hatte keineswegs or, Sie zu berumpeln
oder an der Nase herumzuführen. Meine Situation ist aber leider so verzwiefelt
zur Zeit, daß ich kaum noch wage, jemanden anzusprechen oder um Rat und Hilfe
zu bitten. Da ich schon mehrfach an Sie gecshrieben hatte, traute ich mich
einfach nicht mehr, Sie noch einmal zu belästigen und schrieb Ihnen deshalb
unter meiner anderen Mail-Adresse.
Nachdem ich auch andere Schreiben auf Ihrer Seite gelesen habe, die sich mit
der Unaufhebbarkeit von Traumen beschäftigen, verzwiefelte ich nur noch mehr.
Ich habe keine Kontate mehr zu anderen Menschen, außer zur Familie meiner
Schwester – aber auch dort wage ich nichts mehr zu berichten, denn ich sehe,
daß meine Schwester, ihr Mann und meine beiden NIchten und mein Neffe mit ihrem
Leben beschäftigt sind. Ich fliehe nur alle paar Wochen für ein paar Stunden
zu ihnen in den 50 Kilometer entfernten Nachbarort, damit ich nicht ganz allein
bin.
Auch arbeiten kann ich nicht mehr durhgängig, weil mich alles überfordert.
Ich habe jetzt die zurückliegenden drei Jahre fast ständig allein verbracht.
Meine einstigen Freunde verstehen gar nicht mehr, was ich habe und nennen mich
hyperempfindlich. Manche hofften, daß mich meine Therapie (inzwischen zahlt die
Krankenkasse keine wieteren Sitzungen) so stablisieren würde, daß ich mich von
der Vergangenheit löse. Auch meine Schwester meinte, die Therapie würd emir
helfen, meine Kindheit und Jugend in anderem Licht zu sehen und zu erkennen,
daß “alles nicht so schlimm” gewesen ist. Aber fast tagtäglich
überfallen mich Flashbacks; fast jede Szene, jeder Mensch, ein Bild, ein Wort,
stürzen mich in Erinnerungsstrudel und erinnern mich an Parallelen von früher.
Ganz schlimm war es, zu erfahren, daß der letzte Mensch, dem ich vo rzehn
Jahren unter Qualen Gefühlen entgegengebracht habe, offenbar eine gute
Beziehung hat, eine Karriere gemacht hat, im Ausland seinen Beruf erfolgreich
ausübt… Und ich mich siet zehn Jahren nur noch einigele, nicht von der Stelle
komme, immer einsamer werde und von Trauer überwältigt – und dem ewigen
Wunsch, es doch einmal zu ändern, richtig zu machen, einmal anerkannt zu
werden. Alles was ich mir erarbeitet habe, ist nichts wert, es reicht nicht…
Vor über einem Jahr habe ich meine Lebensgeschichte aufgeschrieben; quasi in
Kurzform auf 60 Seiten – daraus sind nun 800 geworden, es ist wie die
Beschreibung eines Erinnerungsdschungels. Ich versuche darzustellen wie
Erlebnisse der Kindheit und Jugend sich durchs ganze Leben ziehen und Handlungen
und Gefühle des späteren Lebens prägen. In dem Konvolut stellt sich heraus,
daß ich permanent meine Gefühle unterdrückt habem von frühester Kindheit an,
meine ältesten Erinnerungen handeln davon wie ich als Kind Angst vor der
Dunkelheit habe und dafür verspottet werde, wie mir beigebracht wird, keine
Angst haben zu dürfen. Ich habe mich wachgehalten und in die Dunkelheit hinein
für mich gesungen und mit etwas erzählt, Geschichten erfunden. Aber auch das
wurd emir verboten, weil ich ja damit “das ganze Haus wachhielt”. Das
ist aber die Quelle meine sprachlichen Kreativität – und gleichzeitig auch die
Quelle meiner lebenslangen Schlaflosigkeit. Noch heute schrecken ich, kaum
eingedöstauf, weil ich fürchte, es sei jemand im Raum, der mich anfassen
wolle.
Aus jenen “Erinnerungen” habe ich in den Nächten dieses Jahres ein
veritables Buch gemacht – ich hab edie ERinnerungen bereits fortgeschrieben…
Die Sammlung dieser Erinnerungen zeigt mir aber auch, daß mein ganzes Leben
von Scham geprägt ist – ich habe, das habe ich beim Schreiben festgestellt –
gelernt, mich für mein Dasein, für meinen Körper, für meine
Intellektualität, für meinen Körper, für mein emotionales Unvermögen zu
schämen… Und Scham ist wohl der größte Meister der Lebenshemmung! Meine
Mutter hatte inen Putz- und Sauberkeitswahn – solange sie es körperlich irgend
konnte, wurde jeden Tag gewischt, gewienert, gebohnert, gesaugt und abgestaubt –
aber nie war ihre Wohnung in Ordnung. Daran waren dann eben ihre Kinder schuld.
Damals hielt ich es für normal, daß sie die Unterwäsch ihrer Familie
kontrollierte; aber erst beim Schreiben des Textes – als solche Erinnerungen
wieder auftauchten – wurde mir klar, daß sie sich über Schmutz in der
Unterwäsche ihre Mannes und ihrer Kinder beklagte. Sie machte mir sogar
Vorschriften, wie ich mich auf der Toilette zu verhalten habe. — Dutzende
solcher an sich banaler Erinnerungen könnte ich berichten — aber all diese
Erinnerungen fügen sich zu einem Kanon, zu einer Fuge der Scham, die ich
insgeheim immer wieder durchexerziere, im Alltag und besonders im Umgang mit
Menschen. So ist es kein Wunder, daß meine Versuche einer Beziehung kläglich
scheitern mußten. MOnate, soft sogar ein, zwei JAhre lang, habe ich dann immer
versucht, meine Gefühle zu verbergen, aber mich trotzdem dem geliebten Menschen
genehm zu machen, weil ich dachte, ich könne ihm niemals genügen… Meine
Beziehungen konnten nur noch in der PHantasie stattfinden – es war wie bei
Kafka´s Parabel “Vor dem Gesetz” – nur, daß die
Literaturwissenschaftler das eine Parabel nennen und ich erst jetzt begreife,
wie sehr dieser Mann an seinem Gefühl des Aussenseitersein gelitten hat. Das
macht mich weinen.
Alle Aufmunterungen, ich sei hochtalentiert und hochbegabt, kommen bei mir
nicht an – denn das Gefühl des NIcht-Genügens, das Gefühl, daß all diese
Fähigkeiten und Talente, alle Sanftheit, die man mir attestiert, alle
Liebenswürdigkeit, die man mir nachsagt, nicht ausreichen, macht mich fertig.
Ich sehe mich inzwischen kurz vor dem Ende angekommen.
Mein Lieblingsmärchen noch als Kindergartenkind war “Das häßliche
Entlein” von Andersen. Ich kann mich noch erinnern – und viele JAhre wurde
diese Geschichte kolportiert – daß wir im indergarten einmal aufgefordert
wurden, unser liebstes Märchen zu malen. Ich malte einen Baum. Auf die Frage,
was der denn mit dem “Häßlichen Entlein” zu tun habe, hab eich
geantwortet: dahinter verstect sich das Entlein, weil es sich schämt, so
häßlich zu sein! – Entweder erzählte man das mit Kopfschütterln ode rmit
einem ironischen Lächeln á la – na, was hat das Kind für eine schräge
Phantasie.
Zwanzig Jahre nach dieser Kindergartenepisode hatte ich – damals, mit 25,
schien es noch ein Zukunft zu geben, habe ich den Literaturpreis der Stadt
Düsseldorf mit einer Geschichte über Schwule im KZ gewonnen. Auf meiner ersten
öffentlichen Lesung in der Bibliothek meines Heimatortes habe ich Teile dieser
Geschichte gelesen (ich war 25) – das fürte zu einem Eklat zwischen mir und
meinen Eltern; kurz darauf hab eich mein Studium abgebrochen und eine
Verlagsoption auf diese Erzählung hab eich nicht erfüllt. Zu dieser Lesung
aber erschien eine Erzieherin aus dem Kindergarten, die ich seit 20 Jahren nicht
gesehen hatte. Sie überreichte mir am Ende der Lesung eben jene Zeichnung mit
dem Baum für das häßliche Entlein. Soetwas kann man gar nicht erfinden; ich
war tief gerührt. Diese eigentlich einfache Frau muß also meine Not und meine
Talente damals erspürt haben.
Meine Mutter hat diese Zeichnung wohl nicht haben wollen. Sie bewahrte lieber
einen BAstuntersetzer auf, den alle Kinder ihren Müttern gebastelt hatten.
Jetzt kann man natürlich sagen, das seien Banalitäten – aber so banal kann
das ja nicht sein, da es mich bis heute umtreibt.
In meinem Buch endet der Lebens-Spießrutenlauf durch die Schläge der Scham
mit einem Besuch in einem Berliner Schwulenetablissement, in dem die
unglaublichsten Fetische ausgelebt werden können. Dieses Lokal existiert und
ich bin durch die dort stattfindenden Nächte wie ein Zombie gegeistert, konnte
das alles nur mit Alkohol ertragen und war dennoch phasziniert von der
Schamlosigkeit die dort herrschte. Hier wurden, so dachte ich, sexuelle Akte
vollbracht, die sich meine Mutter mit ihrer Schambesessenheit nicht vorstellen
konnte. Aber ich konnte, wie man hier sagt, Gift darauf nehmen, daß sie mir
wenige Nächte später im Traum erschien und mir Vorhaltungen machte: entweder
zerrte sie – längt eine Leiche – an meinen Geschlechtsteilen oder mein noch
lebender Vater erschien und ich sah ihn, wie er mit den wenigen Menschen, die
ich geliebt hatte, in einem Boot fortrudern und sich dabei über mich lustig
machen….
Das alles habe ich in meinem Buch zu einer Collage gefügt – es endet mit einem
zwanzigseitigen Besuch in jenem Berliner Club, so wie ich ihn einmal erlebt
habe, mit den obszönsten Handlungen, die vor meinen AUgen stattfinden
(tatsächlich stattgefunden haben). Aber ich blieb in Wirklichkeit und im Buch
nur Beobachter – denn nur am ABbild haben wir das Leben, zitiere ich da…
Das Buch endet schließlich, wie meine Hauptperson/Ich aus dem Club morgens um
fünf heraustaumelt, nocheinmal in der Brliner Dämmerung eine
roßtäuscherische Amsel hört (das ist wirklich geschehen), die eine Nachtigall
imitiert (fast bin ich stolz auf diese Metapher; aber wie armselig angesichts
der Wahrheit) und dann in ein Hotel geht, um zwei Packungen Schlaftabletten mit
Cognac runterzuspülen.
Es gibt noch einen Epilog: da schüttelt mein Vater, dem man die NAchricht vom
Selbstmird bringt, den Kopf. Er lebt ja noch – ich lasse ihn sagen: der Junge
taugte auch nichts, der war versponnen, überheblich, hat sich nicht angepaßt
und mit seinem ANders-Sein seine Mutter ins Grab gebracht. Wie gut, daß
“unsere” Mutter, daß nicht mehr erleben mußte, Meine verstorbene
Mutter von meinem Vater auch immer nur Mutter genannt.
Auf diesen Epilog bin ich gekommen, als meine Schweste rmir berichtete, daß
sie meinem Vater erzählt habe, daß ich an schweren Depressionen leide – ich
habe den Kontakt zu ihm abgebrochen – daraufhin habe er nur geschwiegen, den
Kopf geschüttelt und bald ein anderes Thema angeschnitten. Er sei eben verlegen
gewesen, meinte meine Schwester— no comment.

Mein Gott, jetzt ist das wieder so ein langer Sermon geworden – ich neige
leider zur epischen Breite… scheint, als ob eben diese epische Breite mich
noch am Leben hält….
Wo also, frage ich Sie noch einmal, soll ich den Zorn hernehmen – das ist ja
nicht wie in der Illas, ich singe nicht den “Zorn des Zeus oder
irgendwelcher Götter”… ich singe ja nicht mal meinen eigenen…

Es ist unverschämt von mir, Ihnen all das zu schreiben – Sie damit zu beladen
– aber vielleicht ist dies alles auch nur noch einmal ein Beleg, ein Zeugnis
dafür, wie sehr Ihre Gedanken richtig und wahr sind.
Wenn es dafür reicht, dann haben meine Geschichten, die banal sind, andere
haben Schlimmeres erlebt, sind geprügelt und vergewaltigt worden,wenigstrens an
Ansatz eines Sinns.

Herzlichen Dank für Ihre Geduld! Sie, Ihre Bücher und Ihre Seite waren die
wenigen wirklichen Bezugspunkte in den vergangenen JAhren – aber ich fürchte,
ich hab ezu spät zu Ihnen gefunden.

Ich wünsche Ihnen noch viel Kraft und Mut und Gesundheit, weiterzumachen; von
Herzen! W.B.

AM: Sie brauchen den Zorn nicht zu erfinden, Sie müssten nur aufhören, Ihre vollkommen destruktive Mutter zu schützen. Sie hat Sie Jahrzehnte lang mit Hilfe von schwersten Drohungen dazu dressiert, keinen Zorn zu fühlen und ständig Schuldgefühle zu haben. Diese Dressur haben Sie offenbar Ihr Leben lang selber fortgesetzt und glauben bis heute immer noch an Ihre Drohungen, obwohl diese alle insgesamt auf Lügen beruhen. . So haben Sie den wahren Zugang zu Ihrer Person verloren, den Ihnen nur der ZORN ermögliichen würde. Vielleicht werden Sie ihn doch noch eines Tages finden, wenn Sie realisieren, was man Ihnen mit dieser Dressur angetan hat, wenn Sie die blanke Empörung über den Seelenmord PACKT, dessen Opfer Sie so lange waren bzw. immer noch sind. Ja, Ihre Eltern, aber vor allem Ihre Mutter, hat Ihr wahres Selbst fast umgebracht, weil Sie Ihre wahren Gefühle systematisch in Ihnen erdrosselt hat.Ohne den immensen Zorn BEWUSST ZU ERLEBEN, der bisher nur Ihren Körper bewohnt, aber immer noch verboten und VERSTECKT bleibt, können Sie den verbliebenen Rest Ihres Selbst nicht retten.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet