Die liebevolle Tochter

Die liebevolle Tochter
Friday 08 December 2006

Liebe Alice Miller,
in den Leserbriefen lese ich sehr häufig, daß erwachsene Menschen, denen bewußt geworden ist, daß sie in der Kindheit in ihrem Elternhaus mißhandelt/mißbraucht wurden, schließlich den Kontakt zum Elternhaus abgebrochen haben. Das habe ich auch immer wieder getan, aber auch immer wieder rückgängig gemacht. Nun habe ich schon wieder angefangen, den Kontakt wieder aufzunehmen, aus Mitleid und aus Sehnsucht (die vielleicht wenigstens etwas erfüllt werden kann, wobei ich aber nun realistisch bleiben muß, was sehr schwer ist). Ich habe eigentlich gedacht, ich hätte abgeschlossen mit ihnen, meinen Eltern und Schwestern, eben wegen meinem Wissen um die dortigen Ursachen meiner noch heute starken psychischen Störungen und deren Verleugnungsverhalten. Ich war eigentlich auch gegen Verzeihen, das kam mir verdrängerisch vor. Aber dennoch hat sich meine verzeihende Haltung nun durchgesetzt. Sie müssen wissen, ich bin zudem ein gläubiger Mensch, christlich katholisch erzogen worden. Ich hatte mich zwar abgewendet davon, aber nun ist mein Glaube wieder voll da.
Ich war auf einer Familienfeier und merkte, daß ich dort wie die anderen ebenfalls so tat, als sei alles schön, also auch schleimte, wie mein Freund bemerkte hinterher, den ich als Schutz mitnahm. Seitdem ich den Kontakt wieder aufgenommen habe, rebelliert mein Körper, ich kann morgens erst ab 6 Uhr einschlafen, habe stattdessen Grübelzwang und Herzkrämpfe, Übelkeit, Zittern, Schwitzen, Dauernervosität, Rückenschmerzen, Übelkeit, kann kaum essen, usw…das parallel dazu, daß ich auf einmal so glücklich bin, wieder Liebe für sie empfinden zu können und diese ihnen nun wieder geben zu können.
Zudem kommt auch, daß meine Eltern nun alt sind, mein Vater sogar Parkinson sehr wahrscheinlich hat.
Meine Familie ist nicht nur böse, sondern auch liebenswert, und gerade das macht es so schwer. Das schlimmste sind vor allem die sexuellen Mißbrauchsflashbacks bzw. die Folgen davon heute noch in meinem Leben, und diese muß ich im Kontakt mit ihnen am ehesten verdrängen, weil es dort Tabuthema ist.
Ob ich es schaffen könnte, mit Hilfe einer neuen Therapie, die ich mir noch suchen müßte, beides zu schaffen, also meine Traumata aufzuarbeiten und dennoch ihnen zu vergeben und meine Liebe zu geben, bzw mich wenigstens an ihren ja auch gegebenen liebenswerten Eigenschaften zu freuen? Also in dem Sinne, daß ich mit einem erwachsenen Ich über deren Taten oder auch heutigen Verleugnungen und verschleierten Angriffsversuchen zu stehen, und mich damit nachträglich um mein inneres Kind kümmere, es beschütze, aber ihm auch seine Sehnsucht zu ihnen lasse, nur es dabei beschütze? So könnte doch vielleicht doch ein Kontakt möglich sein?
Denn mein Mitleid mit meinen Eltern kann ich so überhaupt nicht aushalten, das hielt mich auch krank.
Alles Liebe und nochmals Dank für Ihre Arbeit!

AM: Sie schreiben, Sie seien glücklich mit Ihrer Familie, haben endlich die Liebe gefunden, können endlich alles verzeihen, was Sie doch immer tun wollten, da Sie auch gläubig, katholisch sind. So scheint alles bestens. Doch im gleichen Brief berichten Sie folgendes. „Seitdem ich den Kontakt wieder aufgenommen habe, rebelliert mein Körper, ich kann morgens erst ab 6 Uhr einschlafen, habe stattdessen Grübelzwang und Herzkrämpfe, Übelkeit, Zittern, Schwitzen, Dauernervosität, Rückenschmerzen, Übelkeit, kann kaum essen, usw… das parallel dazu, daß ich auf einmal so glücklich bin, wieder Liebe für sie empfinden zu können und diese ihnen nun wieder geben zu können.“
Angesichts dieser Zeilen musste ich mich fragen, wo und wie Sie gezwungen waren, solche quälenden KRASSEN WIDERSPRÜCHE tolerieren zu müssen. Das kann ein Erwachsener kaum ertragen, aber ein kleines Mädchen muss es können, wenn es keine Wahl hat, wenn es sich den Klagen der Mutter nicht entziehen darf, weil es deren Vertraute ist. Hat Ihre Mutter ihrer intelligenten kleinen Tochter täglich zum Frühstück solche Sprüche serviert: ‚Ich bin so unglücklich, liebe meine Familie und meine Kinder, aber bin krank, kann mich nicht um die Kinder kümmern, was soll ich denn tun?’
Das Kind weiss keinen Rat, es schluckt diese widersprüchlichen Klagen mit seinem süßen Kakao und es schweigt, was soll es schließlich tun? Es möchte seine verwirrende, unglückliche Mutter erlösen, aber es weiß nicht wie. So schluckt es dieses Gift tief in sich hinein, kann es weder verdauen noch ausscheiden, es bleibt in ihm jahrelang aktiv und vergiftet sein Leben. Es kann aber auch vorkommen, dass die Erwachsene plötzlich so anfängt zu reden, wie sie es früher bei ihrer Mutter gelernt hat, und dadurch fähig wird, das Gift zu erkennen. Es kann auch vorkommen, dass sie es nun ausspucken will. Oder auch nicht.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet