Schlimmer als ein KZ

Schlimmer als ein KZ
Thursday 14 January 2010

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Liebe Fau Doktor Miller,
Sie haben mir einmal geschrieben das es: “unendlich schmerzhaft ist, feststellen zu müssen, dass man sadistisch gequält wurde, oft Jahrzehnte lang, und diese Qualen mit Freundlichkeit, Fürsorge und Beherrschung belohnte.
Sie haben das mit Ihrer Mutter erlebt, aber offenbar erst jetzt realisiert. Ihr Vater hat sie ja ständig verwirrt, zur
Berrschung ermahnt und ließ sie glauben, das Verhalten Ihrer Mutter wäre normal gewesen.“

Mit diesen Worten haben Sie genau mein Kindheitstrauma beschrieben und der erschütternde Bericht von Hugo
Rupp hat mir gezeigt, mit welchen Mitteln meine Eltern (gemeinsam!) gegen mich vorgegangen sind und mittels
“Bestrafung“ ein Mädchen und später eine Frau aus mir machten, die über sich selbst im Childhoodforum schrieb: “Mein Gewissen war übermäßig stark ausgeprägt und ich wurde deshalb oft von meinen Eltern, Freunden und auch Geschwistern ausgenutzt, ohne dies zu merken. Angriffe gegen meine Person habe ich als normal empfunden und die Menschen in meiner Umgebung haben mich dafür verachtet und mich mit hämischen
Spott überzogen. Aber wie soll man merken das man schlecht behandelt wird, wenn man es nicht anders kennen-
gelernt hat?“

Als ein ungewolltes Kind, dazu noch ein Mädchen, war ich meinen Eltern nichts wert bis sie entdeckten, dass
ihnen meine Fähigkeiten und Talente nützlich sein könnten, ich wurde zu (fast!) allen Hausarbeiten verpflichtet und ansonsten jeder meiner Rechte und meiner Würde beraubt, es gab keine Achtung und keinen Respekt für mich, meine Brüder wurden ermutigt (mittels Blicken und Vorteilen), mich zu schlagen, meine Zeichnungen zu zerstören (…) sie durften mich beschimpfen und wenn ich mich wehrte, dann bestraften mich meine Eltern. Im Ungang mit mir waren sie hart und grausam, jede Verfehlung wurde zu einem “Verbrechen“, auf diese Weise verlor ich jede Selbstachtung und wollte auch kein Mädchen mehr sein… habe nur mit Rückzug reagieren können, mied meine Brüder, wurde stumm und beobachtete meine Eltern, war “brav“ um nicht bestraft zu werden.
Immer dann, wenn mein Vater freundlich zu mir war, dann hielt ich das für “Liebe“ und wollte wieder mein
“Bestes geben“, manchmal zog er mich “in sein Vertrauen“ und überließ mir schwierige Aufgaben, deren Erfüllung für meine Selbstachtung nötig waren, deshalb hielt ich Anerkennung für meine Leistung für “Respekt“, “Gebrauchtwerden“ als “Wertschätzung“, “Unhöflichkeit“ (mir gegenüber) als “Bestrafung“ ohne das er die Hand gegen mich erheben musste.
Die “Ideale“ meines Vaters machte ich zu meinen “Idealen“ und wie beim Stockholm Syndrom beschrieben,
war ich ihm dankbar und “verehrte“ ihn wie einen Gott (weil er mich am Leben ließ). Ich idealisierte ihn, weil er so übermächtig war, deshalb mußte ich meine Angst vor ihm abspalten, von dieser Angst hatte ich fast mein ganzes Leben keine Ahnung mehr, ich fühlte sie und richtete sie auf meinen Körper und seine Symptome,meinen Körper, der mir fremd war, mir nicht zugehörig und bedrohlich erschien, eine irreale Angst, die ganz real meinem Vater galt.

“Ausgestattet“ mit schädlichen Verhaltensmustern, enormen Schuldgefühlen, fehlender Selbstachtung, kaum vorhandem Selbstschutz, vielen Schamgefühlen (…) verließ ich irgendwann mein Elternhaus und werde in Zukunft diese falsch gelernten Verhaltensmuster wieder und wieder “neu inszenieren“. Auch bei Freundschaften
hielt ich Freundlichkeit für wahre Freundschaft, Anerkennung für meine Leistung (und nur Leistung) für “Respekt“, (…) “Unhöflichkeit“ als eine “Bestrafung“ und “Aufforderung“ noch bessser zu werden, noch mehr
zu geben, weil nur Leistung und Härte gegen mich selbst vor den Augen meines Vaters Gnade fand, er, der selbst ein Leistungssportler und auf dessen “Liebe“ ich angewiesen war.

Bei meiner Ausbildung und später in meinem Beruf (mein Brief an Sie 11.08.2009) nahm ich immer wieder freiwillig Nachteile und ein hohes Arbeitspensum in Kauf, um die an mich gestellten Anforderungen zu erfüllen, meine gesamte Selbstachtung hing davon ab, wenn Herabsetzungen und Angriffe auf mich erfolgten, dann fühlte ich mich schuldig (…) war “im Bereich von Arbeit und gesellschaftlichen Beziehungen ordnungs-
liebend (…) und diese Ordnungsliebe, die Sorge alles richtig zu machen (…) hat mir ein gutes Gewissen verschafft. (“Die Masken der Niedertracht“).

Das alles habe ich aus purer Angst vor meinem Vater getan, eine Angst die ich nicht mehr zuordnen konnte, weil ich die Abspaltung derselben erst aufzuheben vermochte, als ich die Idealisierung seiner Person erkannte und sie somit aufgeben konnte, sie half mir die Kindheit zu überleben, wurde mir aber später zum Verhängnis.

Ich möchte Ihnen auch ganz herzlich zu Ihrem Geburtstag gratulieren und wünsche Ihnen alles Gute, danke für
Ihre Ehrlichkeit, Ihre Menschlichkeit und herzlichen Dank auch an Hugo Rupp für seinen Brief “Die geschuldete
Wut“, ML

AM: Sie haben mehrfache Perversionen Ihrer Eltern schweigend tolerieren müssen. Es ist ein Glück, dass Sie das alles jetzt endlich durchschauen und benennen können. Ich bin immer wieder empört, wenn ich höre, dass die brutale Rolle der Eltern immer noch im Psychologiestudium total verschwiegen und kaum jemals thematisiert wird. Depressive und psychotische Patienten erhalten ihre Medikamente und niemand fragt nach den Ursachen ihrer Leiden. Es ist für ein Kind noch schlimmer ohne Zeugen gefoltert zu werden, als für einen erwachsenen Häftling im Konzentrationslager, der von anderen Leidenden umgeben ist, denn er muss seine Verfolger nicht lieben. Sie wurden in Ihrer Kindheit seelisch und körperlich gefoltert, ausgebeutet und am SEHEN gehindert.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet