Literatur

Literatur
Saturday 06 January 2007

Sehr geehrte Frau Miller,

aufrichtige Worte über die Kindheit finden sich in der Literatur der Gegenwart bei Imre Kertesz, zum Beispiel in “Kaddisch für ein nicht geborenes Kind”. Der Erzähler beantwortet darin quasi die Frage seiner Frau, warum es für ihn nicht in Frage kommt, Vater zu werden. Eine Tatsache, die mit seiner Kindheit zu tun hat und mit seiner Erfahrung als Jude in der Hitler Zeit. Eine der darin geschilderten Szenen aus der Kindheit des Erzählers:

“Und die Kopfschmerzen. Sie sind unbedingt ins Gedächtnis zurückzurufen. Unter dem extakten Namen Migräne. Ich konnte mich nicht bewegen, noch durch die geschlossenen Lider schmerzte das Licht. Nie wagte ich, es jemandem zu sagen. Ich glaubte nicht, daß man es glauben könnte, dass es glaubhaft sei. Ich glaubte, daß auch das nur meine heimliche, geheimzuhaltende Schuld sei, wie das übrige, wie alles. Schließlich glaubte ich meinem Kopf schon nicht mehr, daß er schmerzte. Ein Erfolg der Erziehung auch hier…Zu überlegen ist, wie das Ganze zwischen dem fünften und zehnten Lebensjahr überhaupt bis zuletzt durchzustehen war. Fast unvorstellbar. Wie denn? Offensichtlich wie bei anderen, wie bei allen, mittels gewaltiger irrationaler Hammerschläge, gegen meine Rationalität. Mittels Wahnsinn, mittels eines den Untertanenwahnsinn vom Herrschaftswahnsinn trennenden (oder beide gerade vereinenden) Wahnsinns.”

“”Neurose und Gewalt als ausschließliche, systembildende Formen der Beziehung, Anpassung als einzige Möglichkeit des Überlebens, Gehorsam als tägliche Praxis, Wahnsinn als Endergebnis” schrieb ich.”

“Ja, damals, mit meiner Kindheit, mit der Erziehung begann das unverzeihliche Gebrochenwerden, mein nie überlebtes Überleben, sagte ich zu meiner Frau. Ich war ein mäßig eifriges, nicht immer untadeliges Mitglied jener lautlosen Verschwörung, die sich gegen mein Leben richtete, sagte ich zu meiner Frau. Ausschwitz, sagte ich zu meiner Frau, erscheint mir im Bild des Vaters, ja die Worte Vater und Ausschwitz erzeugen in mir das gleiche Echo, sagte ich zu meiner Frau. Und wenn es stimmt, dass Gott ein glorifizierter Vater ist, dann hat Gott sich mir im Bild von Ausschwitz offenbart, sagte ich zu meiner Frau.”

Der Erzähler kann schließlich nicht nur nicht Vater werden, sondern auch selbst nicht leben. Der Autor Imre Kertesz hat schreibend überlebt. Man wünscht ihm von Herzen, dass er nicht nur überlebt hat, sondern auch lebt. Das scheint auch der Fall zu sein, so weit man das von Büchern und Interviews her beurteilen kann. Ich glaube, darum geht es für viele, die hier Leserbriefe schreiben. Sie möchten vom Überleben zum Leben kommen. Wer kann schon einen Sinn in einem Leben ohne Freude sehen? Deshalb muss man gut auf sich aufpassen und gut für sich sorgen. Ein Weg ist der Austausch mit anderen Menschen die offen und ehrlich sind. Auch Bücher können da Gefährten sein. Deshalb möchte ich Imre Kertesz bei den Leserbriefen vorstellen.

Es grüßt Sie und die Leser der Homepage, V. R.

AM: Ich danke Ihnen für die Zuschrift und die Zitate, von denen Sie annehmen, dass sie in diese Rubrik der Leserbriefe gehören. Aber das tun sie nicht, WEIL sie Literatur darstellen. Dort werden Sie eine Menge Beschreibungen der grausamsten Kindheiten finden, aber solange der Autor sie als Literatur anbietet, kann das Kind in ihm der furchtbaren Angst entgehen, die sich herstellt, wenn man wagt, die eigenen Eltern zu durchschauen. Und diesen Mut zeigen die meisten Briefe, die hier abgedruckt werden. Das ist in meinen Augen MEHR als die schönste Literatur, es ist die pure Wahrheit, das Leben selbst. Bei Autoren von Geschichten und Romanen habe ich noch nie feststellen können, dass sie das Leiden ihrer Protagonisten als ihr eigenes erleben konnten. Wenn sie mit dieser Frage konfrontiert werden, reagieren sie häufig mit Befremden. Sie möchten eher ihr Leiden als “erfunden” darstellen. Sie möchten nicht den Schmerz voll und ganz zulassen, dass sie von Menschen gequält wurden, die sie geliebt hatten und von denen sie Liebe erwartet haben. WIR, die Leser, sehen zwar das Kind, das sie waren, wenn wir die Romane lesen, aber sie selber haben noch Mühe, bei diesem Kind zu sein und seine Schmerzen zu fühlen. Sie hoffen, sich mit der Literatur zu “heilen”. Aber meines Erachtens geht diese Hoffnung nicht auf, weil sich der Körper beim Schreiben von Geschichten nicht beteiligt, es bleibt bei einer intellektuellen Tätigkeit. Das habe ich in meinen Büchern öfters aufgezeigt, vor allem in der “Revolte des Körpers”.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet