Die gesuchten Tränen
Saturday 27 February 2010
Sehr geehrte Damen, sehr geehrter Herr,
vorab möchte ich Sie darum bitten, dass im Falle einer Veröffentlichung meines nachfolgenden Briefs (wogegen ich nichts einzuwenden habe) an Alice Miller
nur meine Initialien, nicht aber mein vollständiger Name angezeigt werden.
Viele Grüße
C.R.
Sehr geehrte Frau Miller,
auf Empfehlung meiner jüngeren Schwester habe ich Ihr Buch „Das Drama des begabten Kindes“ gelesen und seit gestern auch zahlreiche der offenen Briefe und Antworten auf Ihrer Webpage.
Da ich selbst (männlich, 35 Jahre alt) seit vielen Jahren depressiv bin und unter massiven Schlafstörungen leide, habe ich mich nach langer Zeit des „Aushaltens“ nun dazu entschlossen, mich intensiver mit meiner Vergangenheit und dem unerträglich angespannten Verhältnis zu meiner Mutter auseinanderzusetzen.
Ich weiss, dass ich eine eher traurige Kindheit hatte, vor allem insofern, dass ich schon im Kleinkindalter sehr häufig die Verzweiflung meiner Eltern spürte. Sehr oft – vor allem beim Abendessen gab es heftigen Streit zwischen meinen Eltern und das Bild war fast immer das Gleiche: Meine Mutter schrie meinen Vater an und weinte, mein Vater saß irgendwann nur noch wie versteinert da und sagte gar nichts mehr. Und da meine Mutter so viel weinte, hatte ich – das kleine Kind – unglaubliches Mitleid mit ihr. Wenn ich also an die Kindergartenzeit zurückdenke, so spüre ich mehr Dunkelheit und Traurigkeit als Wut oder Zorn (auch wenn ich als kleines Kind manchmal von meiner Mutter geohrfeigt wurde).
Die Wut oder der Zorn auf meine Mutter rühren eher aus meiner Teenagerzeit, als ich und meine beiden jüngeren Schwestern alleinerziehend bei ihr aufwuchsen und sehr häufig ihren Wutausbrüchen ausgesetzt waren. Die Wut meiner Mutter mir und meinen Schwestern gegenüber brachte mich häufig zum Weinen. Als ich ca. 16 Jahre alt war, beschloss ich eines Tages, nicht mehr vor meiner Mutter zu weinen – vermutlich aus Stolz oder weil ich dies für einen „jungen Mann“ nicht mehr für angemessen hielt. Statt dessen lernte ich von da ab, meine Tränen zu unterdrücken, und brachte meiner Mutter in den entprechenden Situationen statt Tränen nur noch kalte Verachtung entgegen und hielt meine Aggression in mir gefangen.
Etwa ab dieser Zeit fingen dann erstmals meine Schlafstörungen an. Das Weinen, das ich in dieser Zeit verlernt habe, möchte ich nun wieder lernen, was mir bisher leider noch nicht gelungen ist.
Ich befinde mich zwar seit über fünf Jahren in einer Gesprächstherapie, bin dort aber im Lauf der Zeit immer seltener hingegangen. In den dortigen Therapiestunden gelange ich zwar immer wieder zu einem Punkt, wo ich merke, wie Schmerz und Traurigkeit in mir aufsteigen, doch schaffe ich es bislang noch nicht, loszulassen – sprich: zu Weinen. Statt dessen wird der innere Druck in meinem Kopf nur größer und ich wünsche mir nur, dass ich diesen „Klumpen“ in meinem Kopf endlich ein wenig auflösen kann, indem ich meine Tränen rauslassen kann. Doch sobald ich merke, dass Traurigkeit und ein „inneres Weinen“ in mir aufsteigen, fange ich an, mich von außen selbst zu beobachten und mich (durch meine Ratio) abzulenken und die Situation sogar etwas ins Lächerliche zu ziehen. Ich und mein Therapeut führen das darauf zurück, dass ich mich womöglich bei ihm nicht richtig „Fallenlassen“ kann, wobei ich zum Teil das Gefühl habe, das ich mir selbst dieses „Sich-Fallenlassen“ nicht erlaube, obwohl mein Therapeut einfühlsam und verständnisvoll ist und mich meine Grenzen selbst stecken lässt.
Gestern war ich zur erneuten Beratung bei einer Psychaterin, und erzählte ihr von meinem Wunsch, wieder Weinen zu können, von meinen massiven Schlafstörungen und auch von einer Panik/Angst-Attacke, die ich vor über sieben Jahren unter Cannabis-Einfluss erlitt (deshalb habe ich auch seit über sieben Jahren kein Cannabis mehr konsumiert).
Sie hat mir daraufhin ein schlafförderndes Antidepressivum verschrieben, mit der Begründung, ich müsse erst wieder eine gewisse Stabilität erlangen, um mich intensiver therapeutisch behandeln lassen zu können. Sie begründete dies auch damit, dass durch den ständigen schlechten Schlaf und den damaligen Cannabiskonsum die Biochemie in meinem Gehirn aus dem Gleichgewicht geraten sei und erst wieder ins Lot gebracht werden müsse.
Ich habe mir daraufhin das Antidepressivum besorgt und mir die „häufigen Nebenwirkungen“ im Beipackzettel durchgelesen und war darüber ziemlich schockiert.
Deshalb habe ich noch nicht mit der Einnahme begonnen, statt dessen schreibe ich Ihnen und warte zudem noch die nächste Stunde mit meinem Therapeuten ab.
Einerseits kann ich nachvollziehen, dass meine innere „Biochemie“ (auch augrund des Cannabis-Konsums) gestört ist und wieder ins Gleichgewicht gebracht werden muss. Andererseits frage ich mich aber, ob es für mich nicht besser wäre, noch intensiver zu versuchen, ohne vorherige Stabilisierung durch Medikamente wieder „Weinen zu lernen“ (ich habe seit etwa 15 Jahren nicht mehr geweint) und durch diese Trauerarbeit meine Biochemie in Ordung zu bringen.
Über Ihre Meinung/Einschätzung würde ich mich sehr freuen
Viele Grüße
C.R.
AM: Ich stimme Ihnen vollkommen zu. In Ihrem letzten Satz haben Sie das ausgesprochen, was ich Ihnen hätte schreiben wollen. Sie waren mit Recht schockiert, als Sie den Beipackzettel lasen. Ihre Gefühle sind Ihre Wegweiser, Sie dürfen sie haben, nehmen Sie sie ernst.