Kinder als Aliens

Kinder als Aliens
Saturday 09 June 2007

Sehr geehrte Alice Miller,

Ihre gesamte Arbeit und Ihre Bücher haben mir nicht bloß im eigenen Leben weitergeholfen – sie haben mir auch ein zusätzliches Instrumentarium gegeben zur genaueren Interpretation von bildender Kunst, Literatur, Film etc.! – In diesem Zusammenhang sind einige Fragen entstanden, zu denen ich gerne Ihre Meinung wüßte…

Seit geraumer Zeit recherchiere ich zu einer Doktorarbeit über die Trivial-Mythen in der phantastischen Literatur und im Film. Siegfried Kracauer hat schon in den zwanziger Jahren treffend festgestellt: “Filme sind der Spiegel der bestehenden Gesellschaft!” Damit meinte er nicht einmal künstlerische Produkte, sondern vor allem die Masse der Unterhaltungsfilme. Sein Diktum trifft auch noch heute zu.

In der phantastischen Literatur/dem phantastischen Film werden der Haß aufs eigene Kind und die Angst vor dem eigenen Kind offener dargestellt als in anderen Genres. Das grandioseste Beispiel ist sicherlich Mary Shelley´s “Frankenstein”. Der Baron Frankenstein schafft sich ein Wesen unter Umgehung des Sexualaktes, von dem er hofft, daß es nach seinem Willen vollkommen sei – aber das “Geschöpf”/Monster, das ungeschlechtlich erzeugte Kind, stellt sich gegen seinen Schöpfer, denn es fühlt sich allein gelassen und sucht verzweifelt seinen Weg und seine Stellung in der Welt.
Auch der uralte Mythos des Vampirs, der ebenfalls “ungeschlechtlich” Nachkommen erzeugt, spiegelt die Grausamkeit der Eltern gegenüber ihrem Kind: der Vampir/der Vater (oder wenn man will, die MUtter) saugt sein Opfer aus und macht es damit zu seinem Geschöpf, will, daß es so wird wie er selbst. Die einzige Möglichkeit für das so geschaffene “Kind” des Vampirs weiterzuleben, ist ebenso zu verfahren, anderen das Blut auszusaugen.
Der profundeste Roman der sogenannten “gothischen” Literatur (der Gruselliteratur des 19. Jahrhunderts, das uns diese “Trivialmythen” geschenkt hat) ist Charles Mathurins “Melmoth, der Wanderer”, eine Paraphrase der Legende vom “ewigen Juden”. Auch hier geht es um die Verlassenheit eines Menschen, der ewig wandern muß, an anderen schuldig wird, weil er sich zu Anfang nicht aufgenommen, sprich geliebt gefühlt hat.
Die spektakulärste Version des “bösen Kindes” im phantastischen Film ist sicherlich die Geschichte vom “Exorzisten”. Hier wird behauptet, das “ungehörige” Kind sei vom Teufel besessen. Durch einen patriachalischen Akt wird dem Kind der Satan augetrieben – und es wird wieder in die Gesellschaft eingefügt; interessant ist, daß das Mädchen den ungeheuren Akt der Teufelsaustreibung vergessen hat!!!

Eine raffiniertere Version vom “bösen Kind” bietet ein Film, den ich gestern zufällig wiedergesehen habe:
“Village of the Damned” (England, 1959) nach einem Roman von John Wyndham, erzählt eine Geschichte von “schrecklichen” Kindern.
Alle Einwohner eines kleinen Dorfes werden von Außerirdischen (daß es sich um AUßerirdische handelt, erfährt man erst im Laufe der Handlung) in Tiefschlaf versetzt. Ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen werden 12 Frauen befruchtet – vom der 15jährigen Farmerstochter bis zu fast 50jährigen FRau eines zeugungsunfähigen Mannes. Die zwölf Kinder sind äußerst intelligent und wißbegierig – sie werden schließlich von einem im Dorf lebenden Wissenschaftler unterrichtet, da sich alle anderen Dorfbewohner, allen voran ihre jeweiligen Eltern vor ihnen fürchten. Der Sohn des Wissenschaftlers ist eines dieser begabten Kinder, die sich aber als gefühllos erweisen – jedenfalls in den Augen der Dörfler. Immer wenn sich die Kinder bedroht fühlen, vernichtn sie durch Telepathie, auf grausame Art denjenigen Menschen, von dem die Bedrohung ausgeht.
Es stellt sich schließlich heraus, daß diese Kinder nur die Vorhut einer außerirdischen Macht sind; sie sollen gleichsam das Terrain erkunden. Bevor sie erwachsen sind und bevor damit ihre Fähigkeiten und Kräfte vollständig zum Einsatz kommen können, sollen sie vernichtet werden. Ihre telepathischen Fähigkeiten machen aber ein Attentat auf sie fast unmöglich. Nur der Wissenschaftler, der sie unterrichtet, vermag sich gegen diese telepthischen Fähigkeiten zu wappnen und sprengt sich selbst und die Kinder in die Luft.

Nach dieser ausführlichen Inhaltsangabe könnte man den Zynismus des Autors/der Filmemacher anprangern. “Village of the Damned” zeigt den Haß der Eltern/Erwachsenen auf ihre Kinder. Ja, er zeigt, daß Eltern ihre Kinder als “Aliens” empfinden, als Geschöpfe, die ihnen ans Leben wollen.
An diesem Film also, sehr geehrte Frau Miller, läßt sich Ihre jahrzehntelange Arbeit nachvollziehen.
Aber, so scheint mir, kommt hier nicht auch noch eine anthropologische Komponente hinzu? Dies ist meine Frage an Sie…

In dieser Science-Fiction-Story (wie in anderen Geschichten/Filmen des phantastischen Genres) wird die Angst vor der Schwangerschaft, dem Kinderkriegen thematisiert. Und die Angst vor dem eigenen Sterben – denn die Kinder werden ja ihre Eltern überleben. Kommt nicht auch daher der Haß auf und die Furcht vor dem Kind?! Und der Neid, daß es lebt, wenn wir als Eltern längst tot sind?!
Das Kind ist das Fremde aus dem eigenen Körper (der Alien), das Kräfte und Fähigkeiten entwickelt, die uns fremd sind – deshalb zeihen wir (in dem Film die Eltern) die Kinder der Gefühllosigkeit. Und man rächt sich an ihnen – vor den Eltern sterben die Kinder… (in diesem Film sogar den physischen, nicht allein den psychischen Tod).

Um diese Angst zu verbrämen haben wir die Ideale von Eltern- vor allem von Mutterschaft entwickelt; und die Idee der Herrschaft über das Kind – in diesem Sinne enthält sogar der Oidipus-Mythos eine Wahrheit, die immer übergangen wird: denn der Vater des Oidipus setzt ja sein eigenes Kind aus, aus Furcht, es könne ihn töten.
Übrigens war es dem römischen pater familias ja sogar gesetzlich gestattet, seine eigenen Kinder zu töten, wenn sie nicht nach seinem Willen handelten.

Ihre Arbeit, Frau Miller, belegt, daß Eltern all den selbsterlebten Haß an ihre Kinder weitergeben – aber gibt es nicht auch noch diese, ich nenne sie anthropologische Komponente, der generellen Furcht von dem Neuen, dem Anderen, das ja das Kind auch ist?! Und auch die Furcht vor dem eigenen Tod, den das neue Leben des Kindes ankündigt?
Das entschuldigt natürlich keineswegs all die Grausamkeiten der Eltern.
Diese “Xenophobie” vor dem eigenen Kind, vor dem Neuen, dem Anderen, das aus dem eigenen Körper kam, muß ja zwangsläufig durch diese Verwirrung die Grausamkeit erzeugen.
Ich fand es z.B. immer als Ermächtigung und Überwältigung, wenn meine Mutter mir vorwarf (immer dann natürlich, wenn ich mich verhielt oder etwas tat, das ihr nicht paßte, vor dem sie Angst hatte): “Du bist doch mein eigen Fleisch und Blut…” – und damit meinte sie, was sie auch oft sagte “wie kannst du nur so aus der Art schlagen?”

Also noch einmal – zeigt sich nicht hier (und damit auch in den geschilderten Fällen in Literatur und Film) eine sozusagen grundsätzliche, anthropologisch auch zu erklärende Angst vor dem Neuen und Fremden?
(Das entschuldigt natürlich in keiner Weise das grausame Verhalten der Eltern an ihren Kindern.)
Aber hat diese Xenophobie vor dem eigenen Kind nicht auch ähnliche Ursachen wie die ANgst vor dem Schwarzen, dem Gastarbeiter, dem Türken etc.

Ich würde mich über einige Gedanken dazu sehr freuen – herzlichst W.B.

AM: Eltern erleben ihre Kinder als Aliens, als bedrohlich, böse, fremd, NUR DANN, wenn sie als Kinder selber so erlebt wurden und dies um keinen Preis wahrhaben wollen. Dann bekämpfen sie ihre Kinder und wenn sie keine haben, spekulieren sie endlos über den Ursprung des Bösen, in Religionen, Philosophien und Mythen. All das, um die schreckliche Geschichte ihrer Kindheit nicht sehen zu müssen, die Wut des verfolgten, gedemütigten gehassten, getäuschten, belogenen, verwirrten Kindes nicht spüren zu müssen. Alles scheint ihnen leichter erträglich als die Wahrheit. Vielleicht ist es für viele so, vor allem, wenn sie nicht wissen, welchen Preis sie dafür bezahlen. Kinder, die mit Respekt aufgewachsen sind, fühlten sich nie als Aliens und haben später keine greulichen Filme gemacht wie Frankenstein und ähnliche. Heute blüht diese Industrie der Verwirrung dank dem Fernsehen, wo Menschen im Glauben erhalten werden, dass äußerste Grausamkeit zum normalen Leben gehört (und sogar “Liebe” ausdrücken kann, wie der gefeierte Regisseur Cronenberg in einem Interview sagte). Aber das stimmt nicht. Nur als Kinder mussten wir das glauben, weil uns nichts anderes übrig blieb. Als Erwachsene verzichten wir auf unser Wissen (“BRINGEN WIR UNS UM DEN VERSTAND”), wenn wir daran glauben.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet