TV-Experiment und eigenes Erleben

TV-Experiment und eigenes Erleben
Sunday 08 July 2007

Liebe Alice Miller,
Liebes Team –

vor einigen Tagen strahlte der Sender VOX in seiner Nachrichtensendung ein Experiment aus, das sehr traurige Ergebnisse zeitigte:
an verschiedenen Orten in Berlin, die häufig auch von Passanten mit Kindern frequentiert werden, stellten ein Schauspieler und ein ca. 10jähriger Junge eine Szene: an einer Pommesbude und auf einem S-Bahnsteig steigert sich der “Vater” in Rage gegen seinen Sohn, schreit ihn an und droht ihm ärgste Bestrafung und Prügel an. Der “Sohn” verhält sich still und zuckt zurück.
Nur zwei Mal mischten sich Passanten ein; eine weitere Person rief die Polizei per Handy, ohne selbst einzuschreiten. Die meisten Umstehenden beobachteten entweder gleichgültig, wandten sich bewußt ab oder “machten sich aus dem Staube”. Vom Kamerateam, das bis dahin verborgen war, auf die “Nichteinmischung” angesprochen, verweigerten die meisten eine Antwort oder es kamen solch hilflose Sätze wie “Das macht man doch nicht, sich einmischen; das ist ja ein Familienstreit” oder gar: “Ich habe ja selber Kinder! Die können doch auch nerven.” Einige schämten sich immerhin.
Auf ihre Motivation, sich einzumischen, angesprochen, antworteten die drei Personen, die etwas unternommen hatten, fast unisono, sie seien durch die Berichte über Kindesmißhandlungen und Morde, die sich in der vergangenen Zeit zu häufen schienen, angeregt worden, einzuschreiten.
Die Beitragsmacher scheuten kein klares Wort – zwar sei ein solcher Test nicht repräsentativ, aber das Ergebnis doch furchtbar armselig war der Tenor des Kommentars.

Heute habe ich in der Fußgängerzone meiner Stadt eine ähnliche Situation erlebt und bin eingeschritten. Mein Erlebnis und meine Beobachtungen dabei möchte ich auch noch gerne berichten:
Eine etwa 25jährige Mutter beugt sich zu ihrem zwei bis dreijährigen Kind hinunter. Das Kind schreit entsetzlich, mit hochrotem Kopf; offenbar kann es nur mühsam mit eigenen Kräften stehen oder gehen und hält sich krampfhaft und auch dabei noch kippelnd am Kinderwagen fest. Die Mutter beschimpft das Kind mit härtestem Ton; nein, hier paßt das Wort: sie schnauzt es an. Ich kann die Mutter kaum verstehen, so überschlägt sich ihre Stimme – wie ja auch das Kind keinen klar artikulierten Ton herausbringen kann. Aber es drängt sich auch der Eindruck auf, daß das Kind noch nicht sprechen kann, noch nicht einmal einfachste Worte. Es scheint mir auch verwunderlich, daß das Kind kaum aus eigener Kraft stehen kann – das scheint aber nicht an der angespannten Situation zu liegen. Offenbar verbietet die Mutter irgendein Verhalten, das ihr nicht paßt; ich verstehe nur:”wenn du jetzt nicht ruhig bist und dies oder jenes tust, dann…” …es fehlt nicht mehr viel und sie wird schlagen…
Ich gehe dazwischen und spreche die Mutter mit ruhigem Ton an:”Schreien Sie doch das Kind nicht so an. Merken Sie denn gar nicht, daß es noch gar nicht begreifen kann, was Sie von ihm wolllen. Es ist traurig und verzweifelt und Sie verstärken doch nur das Weinen und die Angst.”
Da werde ich natürlich angeschrieen:”Halten Sie sich da raus, das ist doch nicht Ihr Kind.” “Und weil es Ihr Kind ist, haben Sie das Recht, das Kind anzuschreien?” – ich bleibe ruhig. “Wenn ich Sie jetzt anschreien würde, dann ließen Sie sich das doch auch nicht gefallen und wären entsetzt,” entgegne ich.
Da wechselt die Mutter blitzschnell die Strategie : sie schreit mich mit umgekippter, hysterischer Stimme an:”Gehen Sie weg, gehen Sie weg von mir! Lassen Sie mich in Ruhe! “Lassen Sie mich in Ruhe!” ” Jetzt erst bleiben Passanten stehen und beobachten die Szene.
“ich lasse mich von Ihnen nicht verscheuchen,” sage ich immer noch ruhig,”ich werde es Ihnen auch zum zweiten und zum dritten Mal sagen, daß Sie sich dem Kind gegenüber unmöglich und schrecklich verhalten!”
Nocheinmal schreit sie:”Gehen Sie weg, fort von mir!” — Immerhin läßt sie das Kind jetzt aus ihrem Griff und ihre Konzentration ist woanders. Es wollen Leute beinahe einschreiten, aber gegen mich; der merkwürdige Schrei “Lassen Sie mich in Ruhe” hat ihnen wohl suggeriert, ich hätte mich der Mutter “unsittlich” genähert. Gott sei Dank klärt sich die Situation rasch.

Erst Stunden später kann ich mir das sonderbare Verhalten der Mutter erklären. Daß Sie sich nicht von einem Fremden abhalten ließ, ihr Kind zu beschimpfen und zu prügeln, das wunderte mich nicht. Mit solch einem Verhalten war ja zu rechnen.
Aber ihre Schreie, hatte ich nach langem Nachdenken den Eindruck, erinnerten sie an eine ganz andere Situation – das klang ja, als müsse sie eine sexuelle Annäherung/einen Übergriff abwehren. Das Kind war völlig vergessen in dem Moment; aber es war ja ohnehin wohl so, daß sie in ihrer Wut und Aggression ganz woanders war als sie ihr Kind anschrie.
Die Frau hatte auf einmal Angst vor mir, der ich ja gar nicht aggressiv war – sind da vielleicht eigene Erfahrungen an die Oberfläche gestiegen, die in dem Moment, als sie ihr Kind aufs Korn nahm, noch unter dieser Oberfläche lagen und die sie dabei war, an ihrem Kind abzureagieren, bevor sie ihr wirklich bewußt wurden?

Den meisten mag diese Episode alltäglich erscheinen; zu banal, um sie zu erzählen. Mich hat sie aber bekräftigt, immer wieder einzuschreiten wenn ich soetwas erlebe. Allerdings hat mich der Gedanke beunruhigt, mit welcher Verhemenz sich diese Frau gegen mich wehrte und mit welchen Mitteln; Mitteln, auf die sie wohl ohne großes Nachdenken verfallen ist.
Aber spontan war das nicht; es war eher ein Reflex – und darum ist das Ganze nur noch erschreckender.

Die Beobachtungen des wenige Minuten dauernden Vorfalls, bezogen sich natürlich auch noch auf das Kind: wenn das die übliche Umgangsweise mit dem Kind war, konnte ich verstehen, weshalb es noch nicht richtig laufen und sich nicht weiter bemerkbar machen konnte als mit herzzerreißenden Schreien, hochrot angelaufen und verzweifelt, das einsamste Geschöpf auf der Welt.

Falls Sie Zeit dazu fänden, liebe Frau Miller, würde ich mich freuen, wenn Sie Ihre Meinung zu meinen Beobachtungen und Schlüssen/Vermutungen hierhersetzen.

Herzliche Grüße, W.B.

AM: Sie Fragen mich nach meinen Meinungen zu Ihren “Beobachtungen, Schlüssen, Vermutungen”. Aber Sie beschrieben doch IHR Erlebnis. Wie FÜHLTEN SIE SICH, als Sie das Kind sahen, das Kind mit herzzerreißenden Schreien, hochrot angelaufen und verzweifelt, das einsamste Geschöpf auf der Welt ? Und wie fühlen Sie sich JETZT mit dieser Erinnerung?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet