Klarer sehen dank dem Fühlen

Klarer sehen dank dem Fühlen
Thursday 11 February 2010

Liebe Frau Miller,

ich hoffe, dass ich Sie so nennen darf, denn ich fühle mich Ihnen und den Wahrheiten, die Sie ent-deckt haben sehr verbunden.

Wie so viele, viele Andere, deren Briefe an Sie ich schon gelesen habe, habe auch ich eine Kindheit mit vielen Schlägen, körperlicher und verbaler Gewalt und Demütigungen hinter mir. Ich kann nur sagen: “Hurra! Ich lebe noch!”
Aktuell lebe ich mit meiner Mutter auf absolutem Kriegsfuß! Es hat vor ein paar Tagen einen heftigen Streit gegeben, indem ich mal wieder zu hören bekam, wie hinterhältig ich sei, und wie unreif und kindisch ich mich verhalten würde. (Ich hatte mir erlaubt, sauer auf meinen Bruder zu sein, der mich schon mehrere Male hintergangen und betrogen hatte) Nur dieses Mal habe ich ihr Kontra gegeben, eine knallharte Grenze gezogen und ihr diese elenden Be-Schuld-igungen wieder vor die Füße geknallt. Seit ich nun endlich die Wut und ja, teilweise Hass, auf sie zulasse, fühlen kann und es auch aussprechen kann, fühle ich mich wesentlich erleichtert und befreit.
Seit dem Streit haben wir nicht ein Wort miteinander gewechselt, aber seitdem ich meine Gefühle ihr gegenüber endlich nicht mehr verleugne, sondern sie zulasse, seitdem ich endlich sagen kann: “Ja, ich hasse meine Mutter für jeden Hieb, den sie mir verpasst hat, für jeden Gegenstand, den sie auf mir kaputt geschlagen hat, für jeden Knüppel, den sie mir zwischen die Beine geschmissen hat!”, geht es mit mir und meinem Leben stetig bergauf. Mit einem Mal kann ich wieder klar denken, sehe für mich und meine Töchter eine neue Perspektive außerhalb dieser kranken Familie, in der mir die Rolle als Sündenbock und Prügelknabe zugedacht war.
Zu meiner Schande (oder auch nicht) muss ich gestehen, dass ich selbst Heilpraktikerin für Psychotherapie bin, und mich im Nachhinein dabei ertappt habe, dass ich auch schon mal zu feige war, meine Klientinnen zu ermutigen, ihre Wut und ihren Hass voll zu erspüren und zu durchleben. Kann sein, dass am Ende Verständnis und Versöhnung stehen, aber der Entwicklungsschritt, seine Gefühle zu bejahen und zu ihnen zu stehen, und sie auch auszudrücken, ist unerlässlich!!! auf dem Weg ein selbstbestimmter und zufriedener Mensch zu werden. Dieser Schritt darf auf keinen Fall ausgelassen werden, falls jemals Klarheit, Frieden, Selbstwertgefühl und Verantwortung in jemandes Leben Einzug halten soll.

Auf keinen Fall sollten diese Gefühle geleugnet werden, um seinen Eltern weiter ein Leben in Konfliktscheu und Pseudo-Harmonie zu ermöglichen. Man opfert sich und sein eigenes Lebensglück dafür (und oft genug auch das seiner Kinder)

Vielen Dank für Ihre Offenheit, Ihren Mut, die Tatsachen beim Namen zu nennen und die Decke der moralischen Verschleierung zu lüften!!!
Vielen Dank, dass Sie Klarheit in mein Leben gebracht haben. Ich hoffe, ich kann mich revanchieren, indem ich sowohl meinen Klienten als auch meinen Töchtern Mut machen kann, klar hinzusehen, zu ihren Gefühlen zu stehen und sie auch entgegen der “moralischen” Dogmen und Verschleierungstaktiken zu vertreten, damit es ein paar gesunde Menschen mehr in dieser Welt gibt.
Herzlichst
K.H.

AM: Sie haben durch das Zulassen Ihrer echten Gefühle mehr für Ihre Arbeit gelernt als in jahrelangem Pauken von unbrauchbaren Theorien. Das wird Ihnen, Ihren Töchtern und den Patienten, die Sie behandeln, sicher gut tun.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet