Erkenntnis

Erkenntnis
Monday 04 February 2008

Liebe Frau Miller, ich habe 3 Ihrer Bücher (Am Anfang war Erziehung, Das Drama des begabten Kindes und Die Revolte des Körpers) gelesen und möchte Ihnen für die daraus erlangten Erkenntnisse danken. Es sind mir sozusagen die Augen geöffnet worden über die verheerenden Folgen der “Vergewaltigung” einer kleinen Kinderseele und die Probleme, mit denen Betroffene im Erwachsenenalter zu kämpfen haben. Es grenzt an schwere Körperverletzung mit zum Teil Todesfolge (nicht wenige Menschen sehen den letzten Ausweg aus ihren Qualen im freiwilligen Tod), was Eltern (wohl vorrangig die Mutter mit dem Vater als aktiven oder auch passivem Mittäter) dem Kind antun – und das, wie Sie richtig schreiben, völlig legal unter dem Deckmantel der „wohlwollenden“ Erziehung des Kindes. Vieles ist mir klar geworden über meine Probleme und mein Verhalten in den heutigen Tagen und ich beginne, nachzuvollziehen, wo die Wurzeln liegen. Ich gehöre glücklicherweise nicht zu den Menschen, die als Konsequenz ihrer (von körperlicher oder seelischer Misshandlung) geprägten Kindheitserfahrung mit Neurosen, Psychosen oder Depressionen zu kämpfen haben oder gar gezwungen sind ihren Qualen im Verbrechen Ausdruck zu verschaffen. Aber viele meiner Ängste und Unsicherheiten sind mir klar geworden. Viel schwerer hat es da meine Frau, die mit der Diagnose „Borderline“ leben muss. Sie hat nun schon eine 20 Jahre andauernde Geschichte (mit 13 Jahren hat sie das erste Mal gespürt, dass “etwas nicht mir ihr stimmt”), geprägt von all den Symptomen, die die Störung mit sich bringt, hinter sich. In den verschiedenen Therapien und Analysen ist ihr wohl auch die intellektuelle, rationale Erkenntnis über die Ursachen (nämlich die schwere seelische Misshandlung durch ihre Mutter) gelungen. Dennoch fällt es ihr extrem schwer, Zugang zu ihren Emotionen zu finden, ihre Gefühle nicht mehr abzuspalten und zu verdrängen und endlich Mitleid und Empathie für das geschundene Kind in ihr zu fühlen. Dementsprechend schwer fällt ihr auch die Loslösung von der Mutter, die immer noch „in ihr“ ist, sie beherrscht, vereinnahmt – und leider auch noch körperlich in ihrer Nähe ist (gleiches Haus). Es ist im Grunde so “einfach” und klingt sehr logisch, wie Sie die Ursachen und Lösungen zur Befreiung aus dem “inneren Gefängnis” beschreiben. Es ist wohl dennoch für die Betroffenen ein schwerer, schmerzhafter Prozess, der am Anfang vielleicht auch auf sehr unsicheres Terrain führt. Trotzdem, ich glaube fest, dass Ihre Erkenntnisse und daraus folgenden Wege zur Aufarbeitung des Traumas der Schlüssel zu einem lebenswerten Leben für alle Betroffenen und damit auch für meine Frau sein können. Dafür noch einmal danke! Mit freundlichen Grüßen S. V.

Sie schreiben, Ihre Frau hätte mit 13 schon gemerkt, dass “etwas mit ihr nicht stimme”. Doch offenbar hat sie bis heute nicht gemerkt, was mit ihrer Mutter nicht stimmt. Daher die Diagnose, die irreführend und nicht hilfreich ist.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet