Man kann nicht jedem gefallen

Man kann nicht jedem gefallen
Thursday 29 June 2006

Es wird schwierig

Hallo Frau Miller,

erst einmal Danke für Ihre Antwort.

Ich glaube nicht, dass viele Menschen Ihre Bücher verstehen, weil die Fakten überprüfbar sind, sondern weil sich die Zeit verändert hat, und mit dieser Veränderung ein neues Denk- und Gefühlsmuster entstanden ist. Ich denke, dass das neue “Zeitalter” schon lange aktiv ist, und es werden immer mehr Menschen aus ihrer Erstarrung kommen. Ich kenne nur sehr wenige Menschen, die so denken wie Sie oder wie ich. Doch es werden mehr. Und das gibt Hoffnung.

Nachdem ich Ihre Bücher gelesen habe und erkannte, wie richtig ich mein Leben lang war, aber selber sehr unter der “schwarzen Pädagogik” litt, ist es mir jetzt natürlich ein Bedürfnis, soviel wie nur möglich zu tun.

Da ich im Kindergarten arbeite, bin ich direkt an der Quelle. Bis jetzt habe ich noch nicht in den aggressiven Situationen eingreifen können. Zum Teil weil ich selber über die spontane Aggression so erstaunt war, zum anderen, weil ich nicht so schnell wußte, wie ich es zustande bringen soll, das Kind zu schützen und gleichzeitig meine Kollegin durch mein Verhalten zu beruhigen. Meine Kolleginnen verstehen mich sowieso nicht, denn ich weigere mich, in deren Art und Weise die Kinder zu behandeln, geschweige denn zu bestrafen.

Es ist für mich fantastisch zu sehen und zu hören, wie identisch sich meine Kolleginnen verhalten (verglichen mit Ihren Büchern)
als da wäre: Deinetwegen bekomme ich noch Magengeschwüre. Wenn es in dieser Art heftig wurde, habe ich zu einem späteren Zeitpunkt mit dem Kind gesprochen und ihm sehr klar gesagt, dass es gar nicht sein kann, dass die Erzieherin seinetwegen krank wird. Die ersten kleinen Erfolge sind natürlich schon sichtbar: Relativ aggressive Kinder wurden weicher und konnten länger als gewohnt harmonisch mit anderen Kindern spielen.

Doch ich merke, dass meine Kolleginnen sich mir gegenüber distanzieren. FRAGE: Wie kann ich mein Verhalten optimieren? Vielleicht haben Sie ja einen Tipp für mich. Am allerliebsten würde ich dazu gern mit Ihnen telefonieren, falls ich darf. Falls es Ihnen nicht möglich ist, wäre das natürlich auch in Ordnung.

Liebe Grüße
G. aus Hamburg

AM: Einem Kind zu sagen, dass es am Magengeschwür seiner Betreuerin schuld sei, ist schlicht und einfach gemein. Vielleicht mussten Sie solche und ähnliche Sprüche als Kind tolerieren und schweigen, um nicht Bestrafungen zu riskieren. Aber heute brauchen Sie solchen Leuten nicht zu gefallen, weil Sie wissen, was Sie tun, und die Reaktionen der Kinder Ihnen sogar bestätigen, dass Sie richtig gehandelt haben. Wenn Sie auf der Seite des Kindes stehen, werden Sie möglicherweise von manchen Kolleginnen angegriffen, aber Sie wissen dann doch, weshalb, und Ihr Wissen gibt Ihnen die Kraft, sich nicht verunsichern zu lassen. Lesen Sie in meinem letzten Buch, “Die Revolte des Körpers”, die Seiten 155 – 157, die sich mit einem ähnlichen Vorkommen beschäftigen. Ich wünsche Ihnen Mut, zu Ihren eigenen Gefühlen zu stehen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet